Deutschland hat am vergangenen Donnerstag sein Lied für Lissabon gesucht und gefunden. Zur Auswahl standen sechs Künstler, die aus über 4.000 Talenten vom NDR in einem mehrstufigen Auswahlverfahren auserkoren wurden, am diesjährigem ESC-Vorentscheid teilzunehmen. 2018 wurde zudem ein neues Votingsystem eingeführt, um den Fluch unserer Keller-Platzierungen der Vorjahre im großen ESC-Finale bereits im Vorfeld zu brechen. So wurde die Entscheidung dieses Jahr gleichmäßig auf drei Schultern verteilt: Eine internationale Jury, deren 20 Mitglieder in ihren Heimatländern bereits Mitglied der nationalen Jurys waren, ein Eurovision Panel bestehend aus 100 Personen, deren Aufgabe es war, den derzeitig angesagten Musikgeschmack zu repräsentieren. Das letzte, aber nicht minder wichtige Drittel lag in der Hand der Fernsehzuschauer.
Linda Zervakis und Elton führten als Moderatoren durch den Abend. Mal souverän, mal etwas holprig mit abgelesenen Schenkelklopfern – jedoch stets mit Charme und einem Augenzwinkern. Es sollten ja auch die Kandidaten und ihre Songs im Vordergrund stehen.
Mit Startnummer eins ging Natia Todua mit dem Song „My Own Way“ an den Start. Die magere Performance der aktuellen The Voice Gewinnerin, im weißem Onesie und mit wilden Dreadlocks, konnte trotz eingängigem Sound nicht überzeugen und landete ohne Überraschung auf dem letzten Platz.
Ryks Auswahl fiel auf das Lied „You and I“. Eine Akrobatin auf dem Klavier, die mit der Inszenierung leider von dem 28-jährigen Singer-Songwriter ablenkte, war nicht unbedingt songdienlich. Gesanglich super, die Songauswahl jedoch etwas zu sperrig für die ESC-Bühne. Er erreichte Platz drei.
Holadrio – Lederhosen und Volksmusikpop. Startnummer 3: Die fünf Jungs von Voxxclub mit „I Mog Di So“ – ein Lied das polarisiert, Stimmung macht, beide Jurys am Ende aber nicht überzeugen konnte und letzendlich auf Platz fünf landete.
„Servus, Bonsoir, Good evening Europe“ – so begrüßte Xavier Darcy das Publikum am Donnerstagabend. Seinen Beitrag „Jonah“ performte er vor wild umherfahrenden Spiegeln und in Kombination mit seinen nicht weniger wild umherfliegenden Beinen. Es war mit Abstand der rockigste Beitrag des Abends, der auch stimmlich voll und ganz überzeugen konnte. Im finalen Ranking schnappte er sich einem guten zweiten Platz.
Es folgte Ivy Quainoo, viele dürften sie noch als Siegerin der ersten The Voice Staffel im Jahr 2011 in Erinnerung haben. Ihren Song „House On Fire“ hat sie auf den Punkt abgeliefert. Die Bühnenshow war jedoch leider etwas zu „overdone“ – Feuer am Bühnenrand, ein brennendes „Haus vom Nikolaus“ und eine zu offensichtlich einstudierte Choreographie. Das Gefühl blieb hier total auf der Strecke.
Last but not least betrat der 27-jährige Singer Songwriter Michael Schulte aus Buxtehude die Bühne. „You Let Me Walk Alone“ – ein Lied, in dem er seinem vor 13 Jahren verstorbenen Vater ein Denkmal setzt und welches die Menschen emotional anspricht. Lyrics und Bühneninszenierung gekonnt an der Grenze zum Kitsch vorbei, mitten ins Herz. Ein souveräner, authentischer Auftritt mit qualitativ hochwertigem Liedgut. Das fanden im Übrigen auch die internationale Jury, das ESC-Panel und auch die Zuschauer, die mit Anrufen und SMS abstimmen konnten. So hieß es am Ende der Show: „Michael Schulte – douze points!“ Und das gleich ganze drei Mal, maximale Punktzahl.
[youtube https://www.youtube.com/watch?v=rp27Ggo_edo]
Natürlich wird der Gewinnersong nicht zwangsläufig jedem gefallen, die Geschmäcker sind nun mal verschieden. Und auch wir haben in der Vergangenheit nicht jedes deutsche ESC-Lied in unser Herz geschlossen. Über die Teilnahme von Michael Schulte freuen wir uns jedoch ungemein. Denn wir haben den Sänger mit den charakteristischen Locken schon seit einigen Jahren auf dem Radar. Besonders zugute halten kann man Michael, dass er wirklich von ganzem Herzen am ESC teilnehmen möchte. Er war einer der wenigen Kandidaten, die sich eigenständig beim NDR für eine Teilnahme beworben haben und er hat zudem alles in Eigenregie gestemmt – ohne Label und Management im Rücken. Wie er uns 2014 im Interview verraten hat, träumt der junge Mann seit langem auch von einer Karriere im (englischsprachigen) Ausland. Dieses Ziel ist nun mit seiner Teilnahme am Eurovision Song Contest 2018 ein Stückchen näher gerückt. Bereits heute werden seine Songs auf Spotify hauptsächlich aus Skandinavien und Großbritannien gestreamt. Auch die Tatsache, dass sein Gewinnertitel „You Let Me Walk Alone“ noch Tage nach der Show die deutschen iTunes Charts anführt, darf durchaus als positives Zeichen gedeutet werden. Wir haben für den 12. Mai in Lissabon ein gutes Gefühl und beobachten mit Spannung die Zeit bis dahin. Wir wünschen Michael für die kommenden Monate alles Gute, starke Nerven und vor allem ganz viel Spaß. Europe – be prepared!
Recap: Mirjam Baur & Marion Weber
Foto (2017): Mirjam Baur
facebook.com/schultemusic
instagram.com/michaelschulte/
youtube.com/user/michaelschulte