Man muss sich einfach immer mal wieder vor Augen führen, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass die Corona-Pandemie unser öffentliches Leben komplett zum Erliegen gebracht hat. Besonders getroffen hat mich damals, als die ersten Festivals abgesagt wurden. Zuerst war es unvorstellbar, dass das wirklich passieren würde. All die verwaisten Felder, Parks und Stadien, gähnende Leere, wo vorher Tausende von Menschen dicht gedrängt und meist friedlich miteinander gefeiert hatten. Irgendwann konnte man sich kaum noch vorstellen, dass all das eines Tages wieder zur Normalität gehören würde. Und plötzlich waren sie wieder da, die Konzerte, die Festivals, die Menschenmassen, und es fühlte sich mindestens genauso verrückt an.
Ich habe seit dem Ende der Pandemie schon einige Festivals besucht. Dass mich dieser Gedanke bei unserem kurzen Besuch auf dem Sziget Festival noch einmal so intensiv beschäftigte, lag zum einen daran, dass ich das letzte Mal 2019 dort war, im letzten Sommer vor der Pandemie. Und zum anderen daran, dass wir in diesem Jahr über Wien nach Budapest gekommen sind, wo wir vor dem Sziget eigentlich das Konzert von Taylor Swift besuchen wollten. Dass dieses nicht stattgefunden hat und warum, ist ja hinlänglich bekannt. Aber die kurzfristige Absage und das damit verbundene Gefühl der Ohnmacht fühlte sich irgendwie unangenehm bekannt an. Man versteht die Gründe und weiß, dass man ihnen gegenüber machtlos ist. Aber es ist auch einfach so enttäuschend und traurig.
Umso heilsamer und euphorischer war die Rückkehr zum Sziget Festival. Alles war noch so, wie ich es in Erinnerung hatte – der Gang über die Brücke zur Insel Òbuda, die Zelte, die an jedem freien Fleck am Wegesrand standen, und natürlich die Hauptbühne und gleich dahinter das rote Zelt der Revolut Stage, die noch genau dort standen, wo man sie beim letzten Mal gefühlt zurückgelassen hatte. Festivals leben zu einem großen Teil auch davon, dass sie, je öfter man sie besucht, immer mehr zu einer Art zweiten Heimat werden.
Dadurch kommt einem das Gelände des Sziget Festivals gar nicht mehr so groß vor, obwohl es wirklich riesig ist. Besonders schön ist auch immer wieder die liebevolle Dekoration, die vielen Fahnen und Wimpel, die Lichter und Lampions, die überall in den Bäumen hängen. Dieses Jahr war es auch besonders auffällig, da wir erst am Sonntag, dem vorletzten Tag des sechstägigen Festivals, angekommen sind. Ich hatte schon ein bisschen Angst, dass nach fünf Tagen alles ein bisschen kollabiert wirkt, aber das war überhaupt nicht der Fall, erstaunlicherweise auch nicht beim Publikum. Wie man sechs Tage auf dem Sziget in einem Zelt überleben kann, ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel.
Denn wenn es zwei Dinge gibt, die einen auf dem Sziget an seine Grenzen bringen können, dann sind es die Hitze und der Staub. In Budapest liegen die Temperaturen im August meist über 30 Grad. Und da es in der Regel auch trocken bleibt, ist der erdige Boden vor allem gegen Ende des Festivals so aufgewühlt, dass sich über alles eine trockene, dichte Staubwolke legt. Je näher man den Bühnen kommt, desto höher steigen die Temperaturen. Umso erstaunlicher ist es, dass im Gegensatz zu anderen Ländern nicht einmal in den vorderen Reihen Wasser in die Menge gereicht wird. Dafür scheint das Sziget-Publikum aber auch mit einer ganz besonderen Zähigkeit gesegnet zu sein – ich habe erstaunlich wenige Leute umkippen und wegetragen werden sehen.
Tanzen bis die Perücke weg fliegt
Das Sziget Festival ist aber vor allem für sein exquisites Line-Up bekannt, und davon bekamen wir, obwohl wir nur zwei Tage vor Ort waren, eine ganze Menge zu sehen. Janelle Monáe brachte am Sonntagabend ihre „Age of Pleasure“-Show auf die Main Stage, und das war wirklich ein lustvolles Vergnügen. Diverse Kostümwechsel, sexy Tänzerinnen, eine super coole Band und eine empowernde Message über die Liebe zu sich selbst und zu allen anderen – man fragt sich, warum Janelle Monáe hier in Europa nicht viel bekannter ist. Auch auf dem Sziget versammelte sich das Publikum nur langsam vor der Main Stage, um ihr gegen Ende des Sets merklich zu Füßen zu liegen. Kein Wunder: Wie die weibliche Reinkarnation von Prince und James Brown fegte sie über die Bühne (und durchs Publikum), bis ihr nach eigener Aussage fast die Perücke wegflog.
Fontaines D.C. wird man nächstes Jahr sicher nur noch auf den Main Stages sehen. Dieses Jahr spielten sie noch im Zelt der Revolut Stage, was für die Iren das perfekte Setting war. Sie gehören zu den Bands, die ein ganz besonderes Lebensgefühl vermitteln, und das übertrug sich auch auf das mitsingende Sziget Publikum. Es ist immer wieder erstaunlich, wie der eigentlich eher schüchterne und wortkarge Frontmann Grian Chatten die Menge im Griff hat. Vielleicht liegt es auch einfach nur an den wahnsinnig guten Songs – das Set verging jedenfalls wie im Flug und erstaunlicherweise konnte man im Zelt sogar einigermaßen atmen.
Danach konnten wir noch das Ende von Sam Smiths Set auf der Main Stage bewundern, und damit ihn selbst und eine Horde Tänzerinnen in Strapsen. Das Line-Up des Sziget ist einfach unvergleichlich vielfältig – und das Publikum sehr international. Als wir zu später Stunde im Colosseum eine letzte Runde zu Sven Väth tanzten, nahm uns eine Gruppe von Geschwistern aus Kolumbien unter ihre Fittiche und bescherte uns Lachkrämpfe auf der Tanzfläche. Irgendwie passiert so etwas nur auf dem Sziget.
Am Montag war dann schon wieder Endspurt, nicht nur für uns, sondern für das ganze Festival. Und wer glaubt, dass die meisten zu diesem Zeitpunkt schon rechtzeitig zum Beginn der Arbeitswoche den Heimweg angetreten haben, der irrt gewaltig. Ich glaube, ich habe das Gelände noch nie so voll gesehen wie an diesem Tag, was ganz sicher daran lag, dass sich an diesem Abend Skrillex und Fred again… auf der Main Stage die Klinke in die Hand gaben. Ich glaube, ich habe auch noch nie so viel geschwitzt, was wiederum daran lag, dass wir entschlossen waren, für diese beiden Acts so nah wie möglich an die Bühne zu kommen.
Der Energie in der Menge tat die Hitze keinen Abbruch. So ein Live-Set von Skrillex ist im besten Sinne „bonkers“ – das Tempo rast nur so dahin, die Samples schrauben sich immer verrückter nach oben. Wer sagt, dass es bei EDM-Shows keinen Moshpit gibt? Die ständig hochschießenden Feuersäulen waren bei den Temperaturen eine tolle Idee… nicht. Aber ansonsten war es ein Riesenspaß und ich habe zum ersten Mal einen Crowdsurfer im Rollstuhl erleben dürfen.
Die Taylor Swift des Techno
Und dann war es auch schon Zeit für den letzten Act des Festivals. Fred again… habe ich neulich in einem Gespräch liebevoll als die Taylor Swift des Techno bezeichnet, nachdem er sein erstes Stadionkonzert im Los Angeles Coliseum innerhalb weniger Minuten ausverkauft hatte. Es scheint derzeit keine Grenzen zu geben, wie viele Menschen der Brite mit seiner Musik anziehen kann. Im Gegensatz zu Taylor kam Fred dann auch tatsächlich, die Menge breitete sich bis zum Riesenrad und unter den Bäumen aus.
Aber es ist auch fast unmöglich, sich dem Charme einer Fred again… Show zu entziehen. Nicht nur, wie er die Melodien und Beats zu einem nicht enden wollenden Crescendo aufbaut. Es sind auch die immer wiederkehrenden Lyrics und Samples, in denen so viel Gefühl und Lebensweisheit steckt, dass man sich tief mit seiner Musik verbunden fühlt. Ein bisschen wie Taylor Swift eben spricht er seinem Publikum kollektiv aus der Seele, bringt all unsere Sorgen und Freuden, unser Hadern mit dem Leben und den Spaß daran auf den Punkt. Und vor allem hat er das Tanzen in der Pandemie gerettet, und jetzt dürfen wir alle zusammenkommen, um mit ihm zu feiern. Das lässt Herzen und Füße gleichermaßen in Flammen aufgehen.
Und die Kehlen! Noch nie habe ich während eines Konzertes so deutlich von einer kalten Fanta fantasiert – dabei mag ich Fanta nicht einmal besonders. Zum Abschied gab es noch ein Feuerwerk, dann war es höchste Zeit, die Getränkestände zu plündern und sich am Trinkwasserbrunnen anzustellen. Eigentlich hatten wir uns vorgenommen, wenigstens noch das anschließende Set von Four Tet durchzutanzen, aber dann hat es uns doch nieder gestreckt. Immerhin konnten wir den größten Teil von unserer Picknickdecke aus verfolgen und miterleben, wie Skrillex mit auf die Bühne kam – ein echtes Gipfeltreffen der Dancefloor-Nerds.
Es war ein kurzer Besuch dieses Jahr, mindestens einen weiteren Tag Sziget hätten wir gut vertragen können. Aber es war so schön, wieder hier zu sein. Zu wissen, dass es diesen Ort noch gibt, dass sich hier wieder Menschen treffen, um gemeinsam zu tanzen, zu feiern und zu fühlen. Möge es immer so bleiben.
Infos zum Vorverkauf für das Sziget Festival 2025 gibt es in Kürze hier.