Olly Alexander von Years & Years: „Ich glaube tatsächlich an ‚fake it ‚till you make it'“

2021 war ein ganz schön verrücktes Jahr für Olly Alexander. Er legte sein glamouröses Bühnen-Alter-Ego ab, um Ritchie zu spielen, die Hauptrolle in der britischen Serie „It’s a Sin“, der neueste Regiestreich von „Queer as Folk“-Schöpfer Russell T Davis. Er schlüpfte zurück in den Glitzeranzug, um an der Seite von Elton John bei den Brit Awards aufzutreten und veröffentlichte eine gemeinsame Single mit Kylie Minogue. Und das alles erstmals als Solokünstler, immer noch unter seinem ehemaligen Bandnamen Years & Years. Das neue Jahr startet er direkt wieder mit einem Knall und veröffentlicht sein neues Album „Night Call“, eine von Herzen kommende, extravagante Ode an Dance Musik und die damit verbundene Kultur. Während der Pandemie ist die Nächte in Clubs durchzutanzen zu etwas geworden, das nicht mehr selbstverständlich ist, umso wichtiger ist es, in den eigenen vier Wänden weiter zu tanzen. „Night Call“ liefert dazu den perfekten Soundtrack und verbindet das Gefühl einer ausufernden Party mit Lyrics, die sowohl sinnlich und sexy, als auch nachdenklich und provokativ sind. 

Olly Alexander ist eine der wichtigsten Kunstfiguren der britischen LGBTQ Musikszene, und natürlich geht es ihm um die Show, die Kostüme, Piercings und Glitzer. Aber während wir uns über Zoom unterhalten, bekomme ich das Gefühl, dass er auch jemand ist, der versucht, die verrückte Welt, in der wir leben zu verstehen und herauszufinden, was seine Rolle in dem Ganzen ist, sowohl als Künstler als auch als Mensch. Er ist direkt, liebenswert und einfach auf der Suche nach dem, was wir alle dringend brauchen: Verständnis und Respekt. „Oh Gabi, ich liebe dich!“ ruft er irgendwann aus. Das ist mir noch nie im Interview passiert. Ich kann es aber nur zurückgeben: Ich hab dich auch lieb, Olly. 

Erzähl mir, wie war das letzte Jahr für dich? „It’s a Sin“ ist rausgekommen, du hast angefangen als Solokünstler zu arbeiten… kannst du überhaupt noch sagen, was alles passiert ist, oder ist alles miteinander verschwommen?

Es fühlt sich alles total surreal an. 2021 war eine einzige Achterbahnfahrt. Große Veränderungen waren das Thema. In den letzten Jahren, seit der Pandemie, hat sich unser aller Leben verändert. Ich habe ein paar wirklich große, persönliche Veränderungen erlebt. Meine Karriere, plötzlich Solokünstler zu sein, all diese Sachen. Es war ziemlich wild, aber großartig. Es gibt ein paar unglaubliche Highlights, auf die ich zurückblicken kann. 2021 hat sich für mich einerseits wie eine Ewigkeit angefühlt, andererseits ist es wie der Blitz vorbei gegangen. Ich bin immer noch dabei, alles zu verarbeiten. 

Ich frage mich, ob die Erfahrungen, die du als Schauspieler machen durftest, sich auf deine künstlerische Arbeit als Musiker ausgewirkt haben. Sich in andere Charaktere hineinzuversetzen und deren Sichtweise zu erkunden, hat das dein Songwriting beeinflusst? Oder versuchst du, das bewusst voneinander zu trennen?

Nein, ich sehe das tatsächlich sehr miteinander verbunden. An einem Projekt zu arbeiten wie „It’s a Sin“… ich finde diese Show so einzigartig, aus vielerlei Gründen. Ich hatte so viel Glück, dass ich zur rechten Zeit am rechten Ort war. Auch dass ich mir die Zeit nehmen konnte das zu machen, nachdem ich die letzten fünf bis sechs Jahre ständig auf Tour war und an Musik gearbeitet habe. Den Olly ausziehen, meine Haare wieder zurück färben, die Piercings raus nehmen, meine Tattoos abdecken… das war lustig, weil ich plötzlich diese Figur von außen betrachten konnte, die ich all die Jahre in Years & Years gespielt habe (lacht). Dahin wieder zurückzugehen war ziemlich aufregend. Weißt du, diese Figur ist definitiv ein Teil von mir, aber ich kann auf diese Weise verschiedene Seiten meiner Persönlichkeit erforschen. Das habe ich immer an der Musik geliebt, am Musik machen, am auf der Bühne stehen. Ich habe es ganz neu schätzen gelernt und gleichzeitig diese unglaubliche Erfahrung mit der Schauspielerei gemacht, einer ganz anderen Disziplin und Herausforderung. Also. Ja… (lacht)

Aber gibt es eine ganz besondere Befriedigung, von der du sagen würdest, dass du sie nur aus der Musik ziehst?

Wenn ich singe, wenn ich auf der Bühne stehe und performe… ich finde, singen beansprucht deinen Atem und deinen Körper auf eine Weise, die dich so unglaublich präsent macht. Es fühlt sich so befreiend an, weil in dem Moment alles andere anhält. Es ist wie eine andere Realität, eine andere Dimension, was auch immer. Ich liebe dieses Gefühl so sehr. Ich glaube, das ist das Wertvollste für mich daran. Es ist überweltlich! (lacht)

Ich habe mir natürlich dein Album angehört. Du wirkst darauf so frei! Besonders wie du über Sex, Dating und Intimität sprichst. Ich bin mit 13 Jahren großer Prince Fan geworden, und im Prinzip gehen all meine ersten Auseinandersetzungen mit Sexualität und Intimität auf seine Texte zurück. Ich fühle mich deshalb immer Künstler*innen verbunden, die sich so frei und poetisch mit diesen Dingen auseinandersetzen wie du.

Oh, Gabi, ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr! Prince ist so ein großartiger Künstler. Und ich habe tatsächlich viel Prince gehört, ein paar Songs ganz besonders, als ich dieses Album gemacht habe. Aber besonders die Art, wie Prince uns mit Sexualität konfrontiert hat, verspielt, provokativ, sexy aber auch ein bisschen seltsam… er kann das alles so machen, weil er Prince ist, weißt du. Dieser Style ist für mich eine große Inspiration. Wenn ich das in Musik verpacken kann, dann gibt mir das die Möglichkeit, all diese Dinge zu fühlen und dabei frei zu sein. Denn in einem Song kann man Dinge sagen, die man im normalen Leben so nicht sagen würde. du drückst dich auf eine Weise aus, die dir sonst vielleicht nicht möglich wäre. Ich genieße das so sehr, und genau das ist meine Hoffnung, dass diejenigen, die es hören, es genauso verkörpern können. Das ist so gut. Danke! 

Und dann bringst du das Ganze in einen schwulen Kontext. Das macht es noch mächtiger und befreiender! Ich habe an viele Menschen gedacht, als ich dein Album gehört habe und ich bin mir sicher, du wirst sehr viele damit sehr glücklich machen.

Ahhhh!

Nein, ernsthaft! Außerdem scheinst du sehr hingebungsvoll zu sein und bereit, viel von dir zu offenbaren. 

Oh, definitiv. Um ehrlich zu sein habe ich sehr gekämpft herauszufinden, wie dieses Album werden soll, vor allem am Anfang. Ich hatte an all dem Material gearbeitet, und dann kam der Lockdown, die Pandemie. Ich hatte das Gefühl, als müsste ich noch einmal ganz von vorne anfangen. Was ich dabei die ganze Zeit im Kopf hatte waren all die Dinge, die ich vermisse. Ich lebe allein und war zu der Zeit mit niemandem zusammen. Ich habe so sehr Intimität vermisst und mich sehr einsam gefühlt. Zurückzukehren zur Dance Musik, die ich geliebt habe als ich aufgewachsen bin und die ich durch „It’s a Sin“ wieder entdeckt habe… all das ist mir ständig durch den Kopf gegangen. Wenn ich etwas mache – ich liebe das Wort „hingebungsvoll“ – dann gebe ich mich definitiv voll und ganz hin. Ich bin in so einer besonderen Position, also fühle ich mich auch verpflichtet, das Beste daraus zu machen. 

Macht dich das nicht verletzlich, dich so zu öffnen? Und hast du manchmal Angst davor?

Es macht mich definitiv verletzlich. Weil man sich so unglaublich dabei offenbart. Manchmal denke ich – wow, das ist jetzt wirklich ein bisschen viel. Es kann sich überwältigend anfühlen. Gleichzeitig ist es auf eine Art auch ein Schutzpanzer. Die Möglichkeit zu haben auf der Bühne zu stehen, im Scheinwerferlicht, im richtigen Outfit, mit den Worten und der Musik… irgendwie ist das ein ganz eigenes Kraftfeld. Es funktioniert also in beide Richtungen, das ist so interessant. Ach Gabi, ich versuche immer noch, den Sinn des Ganzen zu entschlüsseln (lacht).

Ich liebe auch, was du in „Consequences“ anspricht. Ich habe das Gefühl, dass heutzutage, besonders während der Pandemie, der sogenannte freie Wille komplett pervertiert wird. Die Menschen sind so damit beschäftigt sie selbst zu sein, dass sie manchmal vergessen, dass ihre Handlungen Konsequenzen haben, die nicht nur sie selbst betreffen.

Den Song zu schreiben hat so Spaß gemacht. Ich war dabei auf ziemlich viele Dinge wütend (lacht). Abstrakte Dinge, persönliche Dinge, Beziehungen, die ich hatte… der Song ist so direkt! Nach dem Motto: du wirst die Konsequenzen erleiden von dem was du tust (lacht). Das ist wieder so etwas, das ich mich auf die Art und Weise nur in einem Song traue zu sagen. Das war ein wichtiger Song für dieses Album. Er fühlt sich sehr kühn an. 

Versuchst du die Musik auch als Mittel dafür zu nutzen, dass du diese Kühnheit irgendwann auch im wahren Leben haben kannst?

Oh ja! Es ist so schwierig (lacht). Ich glaube tatsächlich an „fake it ‚till you make it“ – mit der Zeit verschwimmen die Grenzen zwischen so tun als ob und es wirklich tun immer mehr, und am Ende landest du dort, wo du eigentlich hin wolltest. Aber ja, es ist hart. Was für eine verrückte Welt!

Glaubst du, du hättest das Album so gemacht, wenn es die Pandemie nicht gegeben hätte?

Definitiv nicht. Es war nahezu direkt beeinflusst von allem, was in der Welt passiert ist. Als die Pandemie anfing, hatte ich plötzlich alle Zeit der Welt an meiner Musik zu arbeiten, und ich war ursprünglich total zuversichtlich, dass ich super produktiv sein würde. Und dann, und ich glaube es ging vielen Leuten so, habe ich plötzlich nichts auf die Reihe gekriegt und mein Kopf war voll mit all den Dingen, die abgingen. Es war eine sehr verwirrende Zeit. Und ich konnte definitiv all die Musik nicht mehr leiden, die ich früher gemacht habe. Ich dachte lange Zeit, wenn du die Möglichkeit hast, Musik zu veröffentlichen, dann kannst du buchstäblich alles machen. Was genau soll es sein? Ich fand das ziemlich schwierig zu beantworten. Was ist der Sinn von überhaupt irgendetwas im Moment? Was ist der Sinn von Popmusik? Aber ich liebe Musik, und ich liebe Dance Music. Und ich wollte Years & Years etwas von dieser Energie zurückgeben. Das meiste auf diesem Album ist ziemlich Uptempo. Ich habe viel Disco und House gehört, und ich glaube es tat ein bisschen weh, weil die Clubs geschlossen waren, man nicht ausgehen konnte, es gab kein Nachtleben. Das war ein wichtiger Teil der Jahre, die mich geprägt haben, und ich wollte etwas machen, das dem seine Ehre erweist. 

Und es hat funktioniert!

Yay!!!

Kannst du sagen, was das Beste war, das dir im letzten Jahr passiert ist?

Das ist ganz schön schwierig, weil ich wirklich ein paar großartige, großartige Dinge erleben durfte. Mit Sicherheit, dass „It’s a Sin“ rauskam und die Reaktionen darauf. Mit Elton John bei den Brit Awards auftreten. Unglaublich! Ich wollte schon immer bei den Brits auftreten, und Elton John ist so ein mega Megastar. Er ist in mein Leben getreten, und ich bin wirklich besessen von ihm. Er ist so ein netter Kerl und gleichzeitig einer der legendärsten Songwriter und Performer überhaupt. Und natürlich mit Kylie Minogue zu arbeiten! Ich liebe sie so sehr. Man könnte also sagen, es gab ein paar gute Momente (lacht).

Aber weißt du, was ich mich frage? Wenn man diese großartigen Momente erleben darf und dann auf der anderen Seite das tägliche Leben, das in der Pandemie auch noch von so vielen Einschränkungen geprägt ist – ist es nicht wahnsinnig schwer, mit diesen Höhen und Tiefen umzugehen? Hast du manchmal das Gefühl, du solltest eigentlich dankbar sein, aber gerade findest du das Leben einfach nur kacke? Ganz ehrlich, mir geht es oft so.

Es ist menschlich, sich so zu fühlen, oder? Egal wer wir sind oder in welchen Umständen wir leben. Und was mich selbst betrifft – man arbeitet so hart, baut all diese Erwartungen auf, an eine Performance oder an den Release eines bestimmten Songs. Man hat diese großen Momente, und dann hat man wieder dieses Kater-Gefühl. Nichts dauert ewig, das Interesse der Leute geht woanders hin, man ist schon wieder mit dem nächsten beschäftigt… ich glaube jeder weiß, wie sich so ein Tiefpunkt anfühlt. Und ich habe das definitiv auch schon erlebt. Ich habe in den letzten Jahren gefühlt, dass mein innerer Kritiker sehr hartnäckig ist. Er trickst mich manchmal aus und lässt mich denken, er wäre nicht da, aber er ist es (lacht).Ich habe festgestellt, dass ich sehr hart mit mir selbst bin. Und das kann einem manchmal ganz schön im Weg stehen, wenn es darum geht, den Moment zu genießen. Ich habe auch diese emotionalen Höhen und Tiefen, manchmal fühle ich mich himmelhochjauchzend und dann denke ich wieder ach, damit kann ich jetzt gar nicht umgehen. Ich glaube, es ist einfach so. Man muss diese Wellen reiten.

Foto © Universal Music