Matty Healy von The 1975 im Interview: „Mein Bedürfnis auf die Bühne zu gehen hat gerade nicht globale Priorität“

Als ich mit Matty Healy telefoniere, ist er gerade irgendwo in England auf dem Land, in einem Wohn/Studiokomplex, wo er mit seiner Band The 1975 (bestehend aus Healy und seinen Jugendfreunden George Daniel, Adam Hann und Ross MacDonald) die letzten beiden Alben aufgenommen hat, und es hört sich so an, als würde er mit seinem Hund spazieren gehen. Vor kurzem hat er sich einen neuen Hund angeschafft, einen Cane Corso, den er vollmundig „Mayhem“ getauft hat, und zwischendrin muss er ihn immer mal wieder zur Ordnung rufen. „Sorry, ich muss aufpassen, dass mein Welpe nicht hier hin macht“, sagt er irgendwann. Später unterbricht er kurz und bittet jemanden, eine Plastiktüte zu holen und das Malheur wegzumachen (hoffen wir also, dass er nicht im Haus ist). 

Offensichtlich macht er gerne Interviews ein wenig nebenher, manchmal fährt er dabei auch mit dem Auto durch die Gegend. Das heißt aber nicht, dass er einem nicht seine volle Aufmerksamkeit widmet. Es entsteht dadurch eher eine angenehm entspannte Atmosphäre, bei der man fast vergessen kann, dass man sich gerade mit dem Frontmann einer Band unterhält, die besonders in England, den USA und Asien Stadien füllt, und um dessen Person ein nahezu obsessiver Kult betrieben wird. Matty Healy ist ein erstaunlich fokussierter und aufmerksamer Gesprächspartner, der frei heraus sagt was ihm an Herzen liegt und gleichzeitig gerne zuhört. 

Die Sache mit Matty Healy ist die: die Leute hassen ihn oder sie lieben ihn, und das beides sehr leidenschaftlich. Wenn er öffentlich seine Meinung kundtut (was er oft und oft auch ohne viel Nachdenken tut), wenn er sich gegen Rassismus, Sexismus und soziale Ungerechtigkeit positioniert, verdrehen Leute seine Worte und massakrieren ihn öffentlich im Internet. Wenn er auf Instagram ein Foto von sich postet, bekommt er dafür tausende von Likes und Liebesbekundungen. Gleichzeitig wird er nie müde, seine sozialen Kanäle für Themen zu nutzen die ihm am Herzen liegen, auch wenn er für die von ihm angeprangerten Menschenrechtsverletzungen ein Zehntel der Reaktionen bekommt wie auf das neueste Selfie. Der Punkt ist: für jemanden, der öffentlich mit so viel Leidenschaft geliebt, gehasst und oft auch schamlos objektifiziert wird, hat Matty Healy ein starkes Bedürfnis, das große Ganze zu sehen und nicht nur sich selbst – manchmal vielleicht sogar ein bisschen zu sehr. Während unserer Unterhaltung versucht er immer mal wieder, den Fokus von sich selbst weg zu lenken. Und als wir uns über „Notes On A Conditional Form“, das neue Album von The 1975 unterhalten, freut er sich hörbar, dass mein Lieblingssong auf dem Album nicht von ihm, sondern aus der Feder von Bandmitglied George Daniel stammt, seinem engstem Kreativpartner. Es ranken sich regelrechte Legenden um Matty Healys angeblich gigantisches Ego. Natürlich, er spielt damit, schließlich ist seine Band, wie er selber sagt, „the greatest band in the world right now“. Aber wenn er auf der Bühne den charismatischen, exzentrischen Frontmann gibt, hat das auch immer ein leichtes Augenzwinkern – er wackelt mit den Hüften und amüsiert sich gleichzeitig über die ekstatische Reaktion des Publikums. 

„Notes On A Conditional Form“, das vierte Album von The 1975, wird, nach zahlreichen Verschiebungen, am 22. Mai 2020 erscheinen. Matty Healy hatte es bereits wenige Monate nach Veröffentlichung des 2018er Albums „A Brief Inquiry Into Online Relationships“ angekündigt. Es entstand zwischen August 2018 und Februar 2020, einer Zeit, in der die Band fast durchgängig auf Tour war. Es enthält 22 Songs, die Liste der Studios, in denen es aufgenommen wurde liest sich wie ein Roadtrip, von London, über Los Angeles bis nach Sydney und Wien, inklusive einem Tourbus mit integriertem Aufnahmestudio. Produziert wurde es von George Daniel und Matty Healy mit ein wenig Unterstützung von Jonathan Gilmore. Das alles klingt nach einem absurden, überehrgeizigen Projekt, das, allein was Umfang und Timing angeht, leicht in die Hose hätte gehen können. Aber „Notes On A Conditional Form“ beweist, dass The 1975 es einerseits schaffen, eine Vielzahl von Stilen auf einem Album zu vereinen (die sie alle mühelos beherrschen) und dabei gleichzeitig etwas völlig Eigenständiges zu kreieren. Sie zitieren sich selbst (in den Texten gibt es zahlreiche Querverweise auf frühere Werke), und trotzdem wiederholen sie sich nicht. Mattys Stimme ist voller Begeisterung als wir darüber reden. Er sagt er glaubt, es sei sein bestes Album bisher, und ich sehe keinen Grund ihm zu widersprechen. 

Eigentlich sollten The 1975 gerade auf großer Arena-Tour in den USA sein. Stattdessen geht Matty Healy mit seinem Hund spazieren und hat wahrscheinlich mehr Zeit für sich selbst als je zuvor. Vielleicht klingt er deshalb auch besonders ernst und nachdenklich. Gleichzeitig weiß er, dass er trotz allem extrem privilegiert ist. „Musik kann man zur Not auch im Kopf machen, weißt du?“ sagt er am Anfang unserer Unterhaltung. Und hier kommt sie dann auch. 

© Ria Smith-Bain

Weißt du was das letzte war das ich gemacht habe, bevor sich unser aller Leben so unglaublich verändert hat? Ich habe eine Freundin in Manchester besucht und wir waren gemeinsam auf eurem Konzert. 

Oh, wirklich? Verdammt…

Und weißt du was? Es war so ein wunderbarer Abend, dass ich irgendwann zu meiner Freundin gesagt habe: wenn das hier mein letzter Abend dieser Art wäre, ich könnte gut damit leben. Ist das nicht verrückt?

Das ist total verrückt! Aber es ist schön, dass du den Moment so würdigen konntest. Ich glaube, die meisten tun sich schwer Dinge zu schätzen wenn sie gerade passieren. Und hinterher ist man dann so wow… wir versuchen gerade alle zurückzuverfolgen was das letzte war, das wir gemacht haben oder wann wir eine Person zum letzten Mal gesehen haben. Da hast du wirklich Glück, dass du direkt wusstest, dass es ein positives Erlebnis ist. Jeden Abend auf die Bühne zu gehen ist meine Form der Normalität. Erst war es eine ganz angenehme Pause, aber langsam fühlt es sich seltsam an, vor allem da wir nicht wissen, wie es weiter geht. Das ist einfach nur seltsam.

Was glaubst du, wie lang wird es dir gut damit gehen, nicht auf die Bühne gehen zu können?

(atmet tief durch) Ein paar Jahre vielleicht? Ich weiß es nicht. Ich werde tun, was ich tun muss. Ich meine, ich muss mich dabei auch wohl fühlen. Es geht ja nicht nur darum ob es erlaubt ist, sondern auch ob es überhaupt angebracht ist. Mein Bedürfnis auf die Bühne zu gehen hat gerade nicht globale Priorität… Ich habe gerade gedacht, ich sollte deswegen nicht unglücklich sein. Auf dem Album spreche ich darüber, dass wir die Dinge ändern müssen, oder etwas wird passieren, das sie für uns ändert. Und gerade sieht es so aus, dass etwas passiert.  Es wäre ein bisschen dumm zu denken, wir könnten irgendwann einfach so weiter machen wie vorher. Stattdessen sollten wir uns darauf konzentrieren, wie wir uns entwickeln und verändern können. Ich glaube, anstatt mich darüber aufzuregen fühle ich mich gerade eher verantwortlich. Ich meine, selbst du, eine erwachsene, intelligente Frau, du arbeitest in der Branche und hast trotzdem Leute, zu denen du aufsiehst und denen du Fragen stellen kannst. Du fragst mich, was ich in dieser Situation tun kann. Ich würde auch gerne jemandem diese Frage stellen, aber ich bin in dieser Premium-Liga von Künstlern, da ist kaum jemand über mir, dem ich sie stellen kann. Nichts wird sich von selber ändern, auch nicht die Klimakrise und all das. Bevor das hier passiert ist, waren die Leute damit beschäftigt mit allem so weiter zu machen wie immer und nur zu gucken, dass es gesellschaftlich möglichst akzeptabel aussieht. Jetzt hingehen brauchen wir einen kompletten Neustart. Anstatt mich also hinzusetzen und es einfach zu wollen, versuche ich darüber nachzudenken, wie wir Livemusik neu erfinden können. Ich habe angefangen mit Leuten darüber zu sprechen. Wie wir Dinge machen und unser Denken neu erfinden können.

Ich hatte dieses Gefühl ja von Anfang an – selbst als wir erst über ein paar Wochen gesprochen haben – dass all das hier uns und unsere Welt sehr nachhaltig verändern wird. 

Ja, es wird eine große Welle an Veränderungen geben. Bis wir zurück zur Normalität finden, wird das hier unsere Normalität sein. Und wenn sich etwas ändert, wird das wiederum normal sein. Wir werden sehr damit beschäftigt sein, uns an diese neue Normalität zu gewöhnen. 

Aber in der Zwischenzeit wirst du ein Album herausbringen! Es ist endlich fertig, und es wird den Leuten viel Freude bringen.

Ja, das ist der Grund warum ich es mache, warum ich mich damit wohl fühle. Ich fühle mich wohl mit allem, das Inhalt und Länge hat und nicht ichbezogen ist, ein Album oder ein Podcast mit jemandem zum Beispiel. Das ist eine Form von Ausdruck, die mich interessiert, denn diese Dinge können den Leuten Trost spenden, und sie sind Kunst. Einfach nur Sachen machen damit ich mich gut fühle, das interessiert mich nicht. 

Ich habe mir so meine Gedanken zu eurem Album gemacht. Was mich wirklich beeindruckt ist, dass ich von den 22 Songs wirklich keinen einzigen überspringen würde. Sie sind alle extrem unterschiedlich, machen aber total Sinn als Ganzes. Und ganz ehrlich, mir fällt im Moment kein*e Künstler*in oder keine Band ein, der ich ein ähnliches Album zutrauen würde. Aber mein erster Gedanke war: ich glaube, Prince hätte Freude an dieser Platte gehabt.

(lacht) Vielen Dank, das ist so ein schönes Kompliment! Ich glaube es ist unsere beste Arbeit. Ich betrachte es wie ein Gemälde: als Ganzes macht es Sinn, aber es besteht aus vielen verschiedenen, konzentrierten, sehr spezifischen Bausteinen. Es ist eine eigene Welt, aber wir leben ja auch in unserer eigenen Welt und ich lebe in meiner eigenen Welt, in meinem eigenen Kopf. Das versuche ich klanglich auszudrücken. Das waren die Songs, die wir veröffentlichen wollten, wir haben nicht darüber nachgedacht, ob es zu viele sind. Ich meine, unsere Alben hatten schon immer eine komische Form. Was Prince betrifft war ich schon immer Fan davon, dass er quasi alles tun konnte, und es hat sich trotzdem immer wie Prince angefühlt. Aber dieses Album… es ist das Album, das am meisten „Ich“ ist. Mir gefällt die Vorstellung, dass Leute es irgendwann vielleicht kopieren werden. Ich finde, es ist ein ziemliches Original. Danke nochmal, ich weiß das wirklich zu schätzen. Ich glaube es ist unser bestes Album. Ich weiß es nicht. Aber wenn ich es nicht denken würde, was wäre dann der Sinn von dem Ganzen?

Ich habe es mir ein paarmal komplett angehört und dann überlegt, welche die Songs sind, zu denen ich wieder zurück komme. Tatsächlich sind es für mich besonders die elektronischen Stücke. „Having No Head“ ist eins meiner Lieblinge.

Oh, das wird George freuen. Mir geht es genauso! Ich glaube, das ist auch mein Liebling auf dem Album. Ich meine, ich hab ihn nicht geschrieben. Vielleicht ist er deshalb mein Liebling (lacht). Das ist George’ großer Moment. Ich bin also ganz deiner Meinung. „Shiny Collarbone“ mag ich auch sehr. Aber das sind alles George’ Sachen. 

Für mich klingt ihr auf dem Album freier als jemals zuvor. Und ich habe mich gefragt – ist das vielleicht auch, weil Drogenabhängigkeit nicht mehr so ein großes Thema für dich ist? Ich weiß, ganz wird man so etwas nie los, aber ich habe das Gefühl – oder hoffe – dass es nicht mehr ein so drängendes Thema für dich ist. Hat dich das künstlerisch irgendwie befreit? 

Ein bisschen, vielleicht… Ich glaube, wir sind einfach gewachsen in letzter Zeit. Wir sind besser geworden in dem was wir tun und verstehen besser das was wir tun, die ehrliche Seite davon. Dahinter steckt kein kalkulierter Gedanke. Wir versuchen nicht, irgend jemandem irgendetwas zu beweisen. Ich glaube, das Album ist ein echtes, aufrichtiges Statement und die Leute wissen aufrichtige Dinge zu schätzen. Aber ich weiß nicht, ob es etwas damit zu tun hat wo ich mich im Moment befinde. Ich glaube… „A Brief Inquiry…“ war eine sehr intensive Erfahrung. Dieses Album war unsere Art damit umzugehen, ohne uns frontal damit zu konfrontieren.

Es ist ein bisschen verspielter, finde ich.

Es hat sehr viel Herz. Und es hat keine Angst davor, verspielt zu sein. Es hat keine Angst davor, aggressiv zu sein. Es hat keine Angst davor, intim und zärtlich zu sein, fast schon naiv. Es hat kein Ego. Ich spreche nicht über mein Ego. Ich dekonstruiere mein Ego. Es ist kein Album, das um sich selbst kreist. Es drückt das wahre Leben in Echtzeit aus. 

Wo wir über Ego sprechen – ich muss sagen, dass ich sehr bewundere, wie du es  schaffst so offen und ehrlich zu bleiben. Sowohl als Künstler als auch als Person. Ich sehe immer wieder, wie die Leute dich im Internet fertig machen (Matty lacht). Und dann frage ich mich, wie kann man sich von jemandem angegriffen fühlen, der sich zum Beispiel für Frauenrechte einsetzt?

Das Internet vermittelt den Leuten die Vorstellung, dass die Welt ein Forum ist und dass ihre Meinung das Wichtigste ist. Der Meinung eines anderen zu widersprechen ist eine Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu bekommen. Es passiert viel Scheiße da draußen. Leute nehmen Dinge die gesagt wurden buchstäblich auseinander, um selbstgerecht, provokant oder clever zu wirken oder sich als Opfer darzustellen. Sie verändern Informationen bewusst, damit sie im Internet interessanter wirken. 

Aber warst du schon immer so? Du bist dir sehr dessen bewusst, was um dich herum passiert und bereit dich für das einzusetzen, was dir wichtig ist. Ich glaube, ich war noch viel mehr mit mir selbst beschäftigt, als ich in deinem Alter war.

Ich glaube, wenn dich so viele Leute anschauen… Etwas nur zu tun weil es um mich geht und weil es mir Spaß macht, das hat für mich nicht lange funktioniert. Alle Künstler*innen, die mich beeinflusst haben, haben auf ihre Weise ihre Zeit dokumentiert. Ich weiß was richtig ist, ich kann nicht einfach dastehen und… ich weiß nicht, vielleicht war ich schon immer so. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Es fällt mir leichter, Dinge im großen Kontext zu hinterfragen als innerhalb meiner selbst. Politik fängt bei jedem Zuhause an. Und ich glaube, ich stehe für all diese Ideen. Aber ich glaube auch, ich muss mich ein bisschen mehr auf meine eigene Welt konzentrieren. 

Vor kurzem hast du eine Podcast-Reihe gestartet, in der du dich mit deinen persönlichen musikalischen Helden unterhältst, wie Brian Eno, Stevie Nicks und Conor Oberst. Hättest du das auch gemacht, wenn die Dinge nicht so wären, wie sie jetzt sind?

Nein, ich glaube nicht. Der Musikredakteur des Magazins „The Face“, für das ich die Reihe gemacht habe, ist einer meiner besten Jugendfreunde. Wir haben zusammen abgehangen, als wir 14, 15 waren. Er hat mich gefragt ob ich etwas für ihn machen würde, was auch immer ich möchte. Er hat mir völlige kreative Freiheit gegeben. Ich meinte, ich glaube am coolsten fände ich eine Reihe von Gesprächen. Die ersten haben wir für „The Face“ gemacht, ich werde noch weitere machen. Im Moment bin ich im Gespräch mit weiteren Leuten dafür. 90 Prozent von denen, die wir angefragt haben hatten Interesse, das ist ganz schön cool. 

Das muss doch auch ein interessanter Perspektivenwechsel für dich sein. Normalerweise bist du immer der, der Fragen beantworten muss. Und dann noch zu hören, wie sehr jemand wie Stevie Nicks dich bewundert!

Ja, das war großartig! Bei den Gesprächen war die Dynamik die, dass ich diese Menschen sehr bewundere. Brian (Eno) und Stevie (Nicks) haben es geschafft, mich zum Innehalten zu bringen. Dass sie etwas über meine… über unsere Musik zu sagen haben. Diese Gespräche… ich will nicht sagen, dass sie mir eine Berechtigung gegeben haben. Aber sie haben mir bewusst gemacht, dass ich etwas bewirkt habe. Wir haben etwas in der Musik bewirkt. Das haben wir ganz bestimmt. Und darauf bin ich ganz schön stolz.

Interview: Gabi Rudolph

Fotos © Jordan Hughes (außer wo angegeben)

www.the1975.com