Julia Stone im Interview: „Wir sind schon eine lustige Spezies“

Julia Stones Gesicht über Zoom auf meinem Bildschirm ist eine wunderbare Abwechslung an diesem durchschnittlichen Pandemie-Morgen. Nebenan gehen meine Kinder dem Homeschooling nach, vor dem Fenster scheint sogar ein wenig die Sonne. Die aufkommenden Frühlingsgefühle schaffen ein wenig Erleichterung, aber ehrlich gesagt auch nicht allzu viel. Die Infektionszahlen sind zum Zeitpunkt unseres Gesprächs trotz Lockdown heftig am Steigen, während Julia Stone mir von einem Leben in ihrer Heimat Australien erzählt, das weit näher an der Normalität scheint. Sie erzählt mir dass ihr Mann, der Jazzmusiker ist, regelmäßig Shows in kleineren Clubs spielt. Julia selbst hat für kurz nach unserem Gespräch ein Konzert angekündigt, das später aufgrund eines Corona-Ausbruchs kurzfristig abgesagt werden wird. Australien ist näher an der Normalität als wir, aber auch viel strenger im Handhaben der trotzdem immer wieder auftretenden Ausbrüche. 

Selbst nur über Zoom, vom anderen Ende der Welt aus, ist die positive und liebenswerte Energie, die Julia Stone ausstrahlt, deutlich greifbar. Man fühlt es nicht nur und sieht es ihr an, sie hat sie auch klanglich in ihrem neuen Soloalbum „Sixty Summers“ eingefangen. „Sixty Summers“ ist eine lebensbejahende Popplatte, die dazu einlädt zu tanzen, zu lieben und rum zu knutschen (ein Thema, auf das wir später noch kommen werden). Das Album wurde phasenweise zwischen 2015 und 2019 geschrieben und aufgenommen, gemeinsam mit ihren Hauptkollaborateuren Thomas Bartlett und Annie Clark (St. Vincent), und es könnte zu keinem besseren Zeitpunkt erscheinen. Es passt perfekt in eine Zeit, in der wir uns nach Erleichterung sehnen, nach positiven Impulsen für Kopf und Körper und natürlich nach dem Sommer. 

Julia Stone ist nicht nur die netteste Gesprächspartnerin die man sich wünschen kann, sie hat auch ganz nebenbei, seitdem die Pandemie ihr das Touren unmöglich machte, ein paar außergewöhnliche Dinge geleistet. 

Julia: Ist das dein Baby auf dem Bild im Hintergrund?

Das ist meine Tochter. Sie ist inzwischen kein Baby mehr, im Sommer wird sie 16.

Oh, wow!

Tja, so alt bin ich schon.

Nun, ich habe das Baby gesehen und dachte du hast ein Baby, das kam mir völlig normal vor. Du siehst super aus und hast schon eine 16 Jahre alte Tochter!

Hach, danke!

Wie ist es, in der Corona-Zeit Mutter zu sein?

Ehrlich gesagt kann ich mich nicht beschweren. Ich bin seit 18 Jahren in einer Beziehung, und ich glaube viele haben immer gedacht, das Geheimnis unserer Beziehung sei, dass wir uns so wenig sehen. Jetzt sitzen wir hier seit einem Jahr miteinander fest und es geht uns immer noch gut. Es macht Spaß, mit meiner Familie zusammen zu sein.

Das ist so schön zu hören. Ich weiß, es ist schwer Komplimente anzunehmen, aber es klingt, als hättet ihr das großartig gemacht. Ich weiß, es ist auch zu einem Teil genetischer Zufall, wie die eigenen Kinder werden, aber ich glaube es hat auch viel damit zu tun, wie man sie liebt und erzieht. Dass deine Kinder heute nette Menschen sind, mit denen man gerne Zeit verbringt und ihr es auch genießt so eng zusammen zu sein, das ist wirklich schön und sagt etwas aus über euch.

Ich danke dir sehr für das Kompliment! Ich weiß nicht ob du dich erinnerst, aber das letzte Mal als wir uns getroffen haben warst du mit deinem Bruder in Berlin. Wir haben uns unter anderem über das Küssen unterhalten und darüber, dass die Leute gerne bei euren Shows rum knutschen. 

Oh ja, ich erinnere mich! Bei bestimmten Songs fangen die Leute bei uns immer an zu knutschen. Das lenkt ganz schön ab, man will nicht direkt hinstarren aber auch nicht betont weggucken. Es gab wirklich viele ulkige Momente bei unseren Shows. Die Menschen sind sehr eigene Geschöpfe. Und ein Konzert an sich ist eigentlich so etwas Komisches! Ich liebe es im Publikum zu sein, es macht mich sehr emotional. Man kommt zusammen und quetscht sich aneinander, um gemeinsam etwas anzuschauen. Man schlägt seine Hände aneinander und erzeugt ein Geräusch, mit dem man seine Begeisterung zum Ausdruck bringt. Das ist so niedlich! Ja, wir sind schon eine lustige Spezies.

Wir ist es dir denn seitdem ergangen? Vor allem natürlich im letzten Jahr.

(überlegt einen Moment) Es war ziemlich gut. Ich habe letztes Jahr geheiratet. Wir haben unsere Flitterwochen auf Island verbracht. Mein Mann ist dann zurück nach Australien und ich bin in Madrid geblieben, um Fotos für das Albumcover zu machen. Dann bin ich zurückgeflogen und wir haben angefangen für die Tour zu proben. Ursprünglich hatten wir geplant, „Sixty Summers“ letztes Jahr rauszubringen. Dann, das weißt du ja, hat die Welt sich gefühlt innerhalb eines Augenblicks verändert. Ähnlich wie bei dir haben mein Mann und ich immer viel Zeit getrennt voneinander verbracht. Meistens haben wir uns für ein paar Wochen gesehen, dann war ich wieder auf Pressereise oder für Aufnahmen in New York und Los Angeles. Wir waren viel getrennt, hatten dadurch aber immer die Freude, uns wieder zu treffen. Und dann plötzlich waren wir jeden Tag zusammen. Ich muss zugeben, es war definitiv erstmal seltsam. Wir haben uns auf eine Weise kennengelernt, die den Prozess der Ehe beschleunigt hat. Es war schön. Wir machen beide Musik. Melbourne ist sehr früh in den harten Lockdown gegangen, also haben wir in verschiedenen Räumen unsere Aufnahmestudios aufgebaut. Er hat die Küche bekommen (lacht). Es hat Spaß gemacht! Wir sind lange aufgeblieben, weil wir natürlich keine Termine hatten und es egal war, ob wir um sechs Uhr morgens ins Bett gehen und um zwei Uhr nachmittags aufstehen. Wir sind komplett danach gegangen, was uns gut tut. Wir hatten einfach Glück, haben viel Musik gemacht. Wir haben uns einen Hund angeschafft… was für ein Geschenk! Sie ist so süß. Und davor, also nachdem wir uns gesehen haben, habe ich viel Zeit in New York und Los Angeles verbracht und an dem Album gearbeitet. Mein Bruder und ich haben hier und da auf der Welt einzelne Shows gespielt, aber meistens habe ich an meiner Musik gearbeitet. Und mich verliebt! (lacht)

Aber war es nicht ein großer Schock, als alles abgesagt wurde und auf Tour gehen nicht mehr möglich war?

Auch da habe ich ehrlich gesagt Glück gehabt. Ich habe eine Freundin, die in einer hohen Position in der Medizin arbeitet, sie ist in der ganzen Welt vernetzt. Sie meinte zu mir: „Pass auf, das wird so noch eine ganze Weile weitergehen. Du wirst dich darauf einstellen müssen, mindestens ein Jahr, wahrscheinlich ein paar Jahre nicht touren zu können.“ Ich habe ihr geglaubt, und wie man sieht hatte sie recht. Also habe ich mir direkt überlegt was ich machen könnte, wenn ich nicht Musik machen kann. Bevor ich mit dem Touren angefangen habe, habe ich studiert, also dachte ich, vielleicht kann ich das wieder machen und mich auf einem anderen Gebiet weiterbilden. Dann habe ich überlegt, was das sein könnte. Ich rede sehr gern mit Menschen und interessiere mich für ihre Erfahrungen und ihre Traumata. Also dachte ich, womit ich mich wohl fühlen würde und was ich wahrscheinlich auch gut könnte, wäre Psychologie. Vielleicht sollte ich Psychologie studieren. Ich habe mit meiner Schwester geredet, die Psychologie studiert hat und habe sie gefragt, ob sie glaubt, dass ich das auch könnte. Sie meinte: „Absolut. Aber bevor du sechs bis sieben Jahre für ein Diplom studierst, arbeite doch erst einmal freiwillig für eine Hilfe-Hotline und finde heraus, wie es sich anfühlt mit Menschen zu sprechen, die leiden.“ Also habe ich mich angemeldet, bin genommen worden und habe während der Corona-Zeit ein Training absolviert. Vor ein paar Monaten habe ich angefangen, Anrufe anzunehmen. Für mich war das eine richtige Rettung. Ich habe so viel gelernt, das mir auch in meiner Beziehung hilft. Wie man aktiv zuhört. Ich habe Fehler erkannt die ich mache, wenn ich mit Leuten kommuniziere und wie ich zuhöre. Ich bin jemand, der unterbewusst versucht, Dinge zu lösen anstatt einfach zuzuhören was gesagt wird. Dieses Training war unglaublich. Ich habe auch über Selbstmordprävention gelernt und wie man Anzeichen erkennt. Ich finde, jeder sollte einmal so ein Training machen. Es war sehr inspirierend. Und Anrufe anzunehmen und für Menschen da zu sein, die in einer schweren Situation sind, das war das Beste, was ich im letzten Jahr gemacht habe. Ich mache immer noch jede Woche eine vier Stunden Schicht. Ich liebe es, für Menschen da zu sein, aber es hat mich wirklich gerettet, etwas von mir geben zu können. Das Gefühl helfen zu können, wenn man sonst nicht unbedingt viel hilfreiches zur Welt beitragen kann. Bis jetzt war das für mich singen und Musik spielen, damit einen Raum zu kreieren. Und jetzt habe ich das Gefühl es gibt noch etwas, das ich tun kann und das einen Wert hat. 

Das ist großartig! Das berührt mich wirklich sehr. Ich glaube, das ist das Großartigste was ich je gehört habe, das jemand mit seiner Zeit während Corona angefangen hat.

Danke!

Aber ich muss auch sagen, es überrascht mich nicht wirklich. Als ich dich das letzte Mal mit deinem Bruder auf der Bühne gesehen habe, da dachte ich wie sehr du es liebst, die Menschen zu umarmen. Du bist so offen und gibst so viel Liebe. Es ist großartig, dass du einen Weg gefunden hast diese Seite von dir zu nutzen, außerhalb des künstlerischen Ausdrucks. Ich bin wirklich beeindruckt,.

Danke. Ich… Ich werde sehr emotional, wenn jemand etwas Nettes über mich sagt. Es fällt mir richtig schwer. Es ist nicht so, dass ich nicht glaube was du sagst. Ich weiß nicht warum, das muss ich wahrscheinlich noch rausfinden… ich werde nicht direkt traurig, aber es ist so ein tiefes Gefühl, das in mir hoch kommt. Vielleicht ist das auch alles was ich will. Ich weiß es nicht. Es gibt viele Arten, auf die man für Menschen da sein kann. Wenn da dieser wichtige Teil von einem ist, den man nicht ausdrücken kann, der in diesen Zeiten am Sterben ist… viele Menschen, die versuchen kreativ zu sein und sich nach menschlichem Kontakt sehnen, haben in dieser Zeit zu kämpfen. Dazu kommt, dass unsere Welt ein ziemlich dysfunktionaler Ort ist und es nicht so aussieht, als würde das demnächst besser werden. Wir fragen uns alle, was wir tun können, um unseren Teil zu positiven Veränderungen beizutragen. Ich muss doch mehr tun können als nur zu singen und Shows zu spielen. Über allem liegt die Hoffnung, dass wir die Dinge ändern können. Ich weiß es nicht. Aber ich versuche es herauszufinden. 

Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass kreativ sein so wichtig ist, wichtiger denn je. Es ist viel mehr als „nur zu singen und Shows zu spielen“. Wenn mich irgendetwas im Moment rettet, dann die Musik. Und ich habe sehr viel Respekt davor, heutzutage ein Album rauszubringen. Vor allem, nachdem du so viele Jahre daran gearbeitet hast. Ich liebe, wie energetisch und positiv es geworden ist!

Ja! Ich hatte so viele Jahre diese Klangwelt im Hinterkopf. Es war jetzt definitiv an der Zeit. Mein Bruder und ich sind aus zwei unterschiedlichen Klangwelten gekommen und haben sie zu etwas vereint, das für uns beide funktioniert hat. Angus für sich ist Dope Lemon und ich für mich bin das hier. Früher waren meine Soloalben eine Erweiterung der Welt, die Angus und ich zusammen aufgebaut hatten. Es waren Songs aus dem gleichen Genre. Es gibt diese Seite von mir, die raus gekommen ist, wenn wir nach der Show tanzen gegangen sind. Dann die Dinge, die ich höre und die mich begeistern. Wen ich mir angeschaut habe, wenn wir auf Festivals gespielt haben. Meistens habe ich mir keine Bands angeschaut, ich bin in das Zelt gegangen, in dem getanzt wurde. Es hat eine Weile gedauert, bis ich die richtigen Menschen gefunden habe, mit denen ich das alles ausdrücken konnte. Annie und Thomas waren das für mich. Sie waren beide mit mir aufgeregt und haben diese Seiten von mir gefeiert. Es war so befreiend, im Studio zu sein und etwas zu tun, das sich nicht automatisch normal für mich angefühlt hat. Jetzt war die richtige Zeit. Es hat so viel Spaß gemacht.

Ich liebe es, wie du diese Seite von dir feierst! Ich glaube es ist heute nicht mehr ganz so schlimm, aber es passiert immer noch, dass auf Frauen die Popmusik machen, herabgeblickt wird. So nach dem Motto: ah, okay, jetzt macht sie also Pop…

Das ist so seltsam, oder? Meine ganze Welt war immer der Pop der Neunziger. Selbst so etwas wie die Spice Girls, die Songs sind so gut geschrieben! Wenn du das heute auflegst, fangen immer noch alle an zu tanzen. Ich liebe Lady Gaga. Ich liebe Menschen, die Songs schreiben, die alle zum Tanzen bringen. Kylie Minogues neue Platte! Wie alt ist sie, 50? Sie hat es so drauf! Ich glaube, man denkt immer noch, man müsste sich innerhalb einer bestimmten Welt bewegen. Ich schätze es ist mein Glück, dass zum Erwachsenwerden dazu gehört, dass man sich nicht mehr so viele Gedanken darüber macht, was die Leute von einem denken. Und sie lassen dich definitiv gerne wissen, wenn ihnen nicht gefällt was du tust. Ich bin froh, dass mich das nicht mehr so trifft wie damals in meinen Zwanzigern. Dir muss nicht gefallen was ich mache! Mir muss es gefallen! Ich bin ja schließlich diejenige, die es macht. 

Foto © Brooke Ashley Barone