
Es ist heutzutage eine Seltenheit geworden, dass man jemanden persönlich zum Interview trifft. Dass mir an diesem Tag in einem Kreuzberger Hinterhof ausgerechnet Jehnny Beth gegenüber sitzt, ist fast schon bedeutsam. 2020 sollte ich Jehnny Beth, ehemals Frontfrau der Post-Punk-Band Savages, zum Release ihres ersten Soloalbums „To Love Is To Live“ persönlich treffen. Dann wurde ihre Promoreise kurzfrisitg abgesagt, weil aufgrund des Ausbruch des Corona-Virus erstmals eine Reisewarnung herrschte. Wir sprachen am Ende am Telefon miteinander und fanden beide, dass das alles gerade sehr verwirrend und beängstigend ist.
Fünf Jahre später treffen wir uns also persönlich, und es ist eine Menge passiert seitdem. Jehnny Beth hat ihr zweites Soloalbum fertig gestellt, es heißt „You Heartbreaker, You“ und klingt, als hätte Beth all die Energie, die Kraft, die Wut und die Liebe, die sich in diesen Jahren angestaut hat, mit einem (Faust)Schlag herausgelassen. Auf Klappstühlen in der ersten richtig kräftigen Sonne des Jahres sitzend, reden wir über extrovertierte Musik für Introvertierte, die Krux mit den Glitzerbikinis und das wichtige, kathartische Gefühl, manchmal ein bisschen „too much“ zu sein.
Zuletzt haben wir uns 2020 per Telefon gesprochen. Es war mein erstes Interview, das wegen Corona nicht in Person stattfinden konnte.
Das war verdammt hart, ein Album während einer Pandemie rauszubringen. Kaum dass wir das Album angekündigt hatten, kam die Welt zum Stillstand. Es war hart, zwei Jahre lang nicht auf Tour gehen zu können, nicht reisen zu können… Es war auch finanziell hart. So ein Album ist ja auch immer eine Investition. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich davon erholt habe. Jetzt bin ich wieder zurück, stärker denn je (lacht).
Nicht wahr? Es klingt, als hättest du all die Energie, die sich in der Zeit angesammelt hat, in dieses Album gepackt.
Tatsächlich. Ich hatte endlich die Energie, dieses Album zu machen. Jetzt fühle ich mich sehr stark.
Erzähl mir, was war der Funke, der dich wieder hat kreativ werden lassen?
Als die Welt sich langsam wieder öffnete, ging Johnny Hostile, mit dem ich das Album gemacht habe, auf Tour mit Nick Cave und Warren Ellis. Es wahr sehr inspirierend für ihn, mit den beiden auf der Bühne zu stehen. Sie gehörten zu den ersten, die wieder auf Tour gegangen sind und es war noch eine sehr seltsame Zeit, um auf Tour zu sein. Hotels hatten zum Teil kein Personal, in den Städten war niemand… danach sind wir mit Idles auf Tour gegangen, ich habe mit Depeche Mode getourt und war in Amerika mit Queens of the Stone Age unterwegs. In Amerika ist irgendwie eine Alarmglocke in mir angegangen. Das Publikum dort reagiert ganz anders auf extreme Musik. Wir haben Festivals mit Korn gespielt, mit Turnstile.
Aktuell explodiert diese Hardcore Szene, im Nachhinein fühlt es sich so an, als hätten wir erlebt, wie der Grundstein dafür gelegt wurde. Ich hatte das Gefühl, dass das Publikum dort meine Musik versteht. Wir haben instinktiv die gleiche Sprache gesprochen. In dem Moment bin ich aufgewacht und wusste, dass die Musik, die ich machen wollte, diesem Moment dienen sollte. Ich wollte direkt wieder ins Studio, aber dann hatte ich sechs Monate am Stück, in denen ich Filme gedreht habe. Das war frustrierend. Gleichzeitig war es gut, denn diese Frustration hat sich aufgebaut und ich konnte mir alles vorstellen, was ich machen wollte. Als ich dann zurück im Studio war mit Johnny Hostile war ich bereit, voller Kraft, Ideen und dem Verlangen, sie umzusetzen. Das Album war schnell fertig, innerhalb weniger Monate.
Ich habe Johnny gebeten, auf der Gitarre zu schreiben. Er ist ein unglaublicher Gitarrist, eine Riff-Maschine (lacht). Ich habe mir angehört was er geschrieben hat, und es hat mich sofort wahnsinnig inspiriert. Es war genau das, was ich machen wollte. Als wir im Studio waren, haben wir nicht nur Musik gemacht. Wir haben T-Shirts designed und dafür Lyrics benutzt, die wir geschrieben haben. Wir haben Fotos gemacht. Das Albumcover ist das erste Foto, das er damals von mir gemacht hat. Es war uns wichtig, dass die Musik und das Visuelle Hand in Hand gehen, dass sie gleichberechtigte Teile des Projekts sind. Wir haben alles gemeinsam gemacht.
Und die Lyrics? Ich mag es sehr, wie emotional sie sind, zärtlich zum Teil. Wie sie auf die rohe Kraft der Musik treffen.
Ja, es sind im Prinzip Liebeslieder. Aber mit einem Faustschlag. Sie sind nicht süß (lacht). Ich glaube nicht, dass aktuell eine gute Zeit für Nuancen ist. Wir leben in einer Zeit, in der du lernen musst zu schreien und lernen musst zu flüstern. Außerdem hat es sich angefühlt, als würde ich dahin zurückgehen, womit ich angefangen habe. Das nicht aus den Augen zu verlieren. Emotionale Musik kann dir trotzdem in den Hintern treten und dein Leben verändern.
Und was die Vocals angeht – ich wollte neue Dinge ausprobieren, an meiner Technik arbeiten. Schreien war nie etwas, das ich groß erkundet habe. Ich bin keine Hardcore-Sängerin, aber ich habe mein eigenes Ding daraus gemacht. Mike Patton hat mich schon immer sehr inspiriert. Ich habe viel Faith No More gehört, während ich das Album gemacht habe. Was er macht ist technisch hoch beeindruckend, aber hat gleichzeitig auch viel Herz. Er kann innerhalb von Sekundenbruchteilen vom Flüstern zum Schreien übergehen. Das wollte ich auch ausprobieren. Einer der ersten Songs die wir ausprobiert haben war „Obsession“, der mit der Zeile „You Heartbreaker, You“ dem Album den Titel gegeben hat. Diese Radikalität, die Kontraste, das hat uns interessiert. Sobald wir den Song fertig hatten wussten wir, in die Richtung wollen wir gehen.
Auf deinem Instagram postest du regelmässig eine Reihe von Gedanken, die dir gekommen sind. Du nennst es „20 Things I Noticed“. Ich musste gerade an etwas denken, das du dort kürzlich gepostet hast: „Let’s make music for introverts for whom music changes into extroverts“.(Jehnny lacht) Das passt auch zu dem, das du vorhin gesagt hast, dass du etwas schaffen wolltest, das diese starken Reaktionen in Menschen hervorruft. Wie bei einem Hardcore Konzert.
Ja! Denn mir geht es beim Songschreiben nicht darum, meinen eigenen Kram zu sortieren. Manchmal ist es ein kathartischer Prozess für mich – aber wen interessiert das am Ende. Ich schreibe jeden Tag, aber ich möchte nicht, dass jeder lesen kann, was ich jeden Tag schreibe. Das ist der Ort, an dem ich versuche, meinen eigenen Shit zu sortieren, wo ich ein kreatives Medium dafür nutze, Dinge zu verstehen und dem Ganzen einen Sinn zu geben. Aber einen Song zu schreiben ist etwas ganz anderes für mich. Es ist ein viel leichterer Prozess, er macht mir Spaß. Natürlich gehe ich genauso ernsthaft daran, pflichtbewusst. Ich frage mich, was ich sagen möchte, wenn ich mit den Leuten spreche. Vor allem in einer Welt voller Fastfood-Musik. Manchmal höre ich Lyrics und denke: worüber zum Teufel redest du überhaupt? Was ist das für eine Message? Ist das wirklich das, was wir sagen wollen? Ich denke es ist wichtig dass wir uns Gedanken darüber machen, was wir sagen wollen.
Ich liebe ja den zweiten Song auf dem Album. „No Good For People“. Das fühle ich so sehr! Das Gefühl, zu kritisch zu sein, „zu viel“ für manche Menschen, ich habe das oft. Und gleichzeitig finde ich es so wichtig. Vor allem als Frau.
(lacht) Jaaa, absolut! Sei einfach immer ein bisschen zu viel. Es ist okay. Finde ich auch. Gleichzeitig steckt in allem immer ein gewisses Opfer, oder? Um so aktiv zu sein wie ich es bin, muss ich bestimmte Dinge opfern. Aber wenn du kürzer trittst, langsamer machst, dich mehr um andere Menschen kümmerst, musst du diesen wichtigen Teil von dir opfern. Man kann nicht wirklich gewinnen, oder? Aber weißt du was, neulich habe ich mit Shirley Mansion von Garbage gesprochen. Sie mag das was ich mache sehr. Ich bin nicht so gezähmt, und sie sagt, wir brauchen mehr wütende Frauen da draußen. Das finde ich auch. Es gibt sehr viele wohlerzogene Frauen, die uns repräsentieren. Das ist okay, aber es kann und darf nicht unsere einzige Repräsentation sein. Teil des Erfolges von Savages damals war, dass es damals zu wenige Frauen im Punk gab. Da waren einmal Frauen wie The Slits, Kathleen Hanna, Courtney Love, aber zu dem Zeitpunkt gab es niemanden, es gab keine Szene, schon gar nicht da wo wir herkamen.
Aber eine Sache, die wir damals immer wieder gefragt wurden war, warum wir nicht mehr lächeln. Ich habe absichtlich auf Fotos nicht gelächelt, einfach um die Leute zu ärgern. Es gab ein paar Dinge, sobald man die von mir erwartet hat, hatte ich keine Lust mehr sie zu tun. Wenn ich damals interviewt wurde, drehte sich die erste oder zweite Frage immer um Feminismus. Heute fühle ich mich wohl, darüber zu reden, damals habe ich mich geweigert, diese Fragen zu beantworten. Es hat mich geärgert, dass diese Fragen nicht meinen männlichen Kollegen gestellt wurden. Warum fragt ihr das nicht die Männer? Warum liegt es an mir, meinen Platz als Frau in der Musikgeschichte zu verteidigen? Wir haben uns auch geweigert, uns sexualisieren zu lassen. Das haben wir bewusst eingesetzt. Sonst hätten alle über unsere Körper oder unsere Kleidung geredet. Wenn du dich ganz in schwarz kleidest und hochgeschlossene, schwarze Hemden trägst, bleibt nur die Musik, über die du reden kannst.
Ich finde es gibt aktuell diese etwas beunruhigende Wende, dass Frauen dazu neigen, sich auf extreme Weise zu sexualisieren und es als Selbstermächtigung bezeichnen. Aber es geschieht auf eine Weise, die letztendlich wieder nur dem Patriarchat zugute kommt (siehe Extrembeispiele wie Bonnie Blue und Lily Phillips). Und das soll jetzt eine Nische im Feminismus sein, dass egal was ich mit mir selbst als Frau mache, solange ich es nach meinen eigenen Bedingungen tue, es feministisch motiviert ist. Und wir als Frauen sollen andere Frauen dafür nicht beurteilen. Aber ich finde, wir haben das Recht, zu beurteilen, was andere Frauen tun, findest du nicht?
Oh ja. Du meinst, wie man Dua Lipa nicht kritisch beurteilen sollte, nur weil sie eine Frau ist? Beurteile sie nicht, sei eine Schwester, unterstütze sie. Ich bin eine Frau, also sollte ich keine Meinung über eine andere Frau haben? Das ist keine Ermächtigung, das ist Kastration. Du hast das Recht, eine Meinung zu haben. Nur weil wir beide Frauen sind, sollte ich jemanden wie Dua Lipa unterstützen? Ich kann trotzdem denken, dass der Bikini, den sie trägt, künstlerisch ein bisschen schwach ist. Aber ich respektiere sie trotzdem als Frau! Nichts gegen sie als Frau, als Individuum. Aber ich kann ihre Kunst beurteilen! Die Übersexualisierung von Körpern… es gibt Popstars, die das tun, wie Charli XCX offensichtlich. Und dann gibt es Billie Eilish, die dieses Spiel überhaupt nicht spielt. Aber man sieht, dass beide massive Erfolge haben. Also denke ich, dass beides möglich ist. Aber weißt du was, es ist nicht unbedingt das „zeige deinen Körper-Ding“, das mich stört. Es ist mehr… haben die alle denselben Stylisten?! (lacht)

„You Heartbreaker, You“ von Jehnny Beth erscheint am 29. August 2025. Im Oktober kommt Jehnny Beth zu uns auf Tour, die Termine findet ihr hier.
