Gut zwei Jahre ist es her, dass ich Helgi Jonsson zuletzt zum Interview getroffen habe und zu meiner eigenen Überraschung Tina Dico dabei war. Das Hotelzimmer im Berliner Michelberger Hotel war so klein, dass gerade das breite Bett hinein passte, sodass wir dort gemeinsam saßen und uns über Helgis aktuelle EP „Blindfolded“ und die Arbeit an seinem kommenden Album unterhielten. Schon damals wurde deutlich, dass Tina und Helgi sich offensichtlich gefunden haben – auf einer Arbeitsebene, auf der sie sich nahezu mit blinder Übereinstimmung bewegen schienen, bis hin zu einer, von mir zu dem Zeitpunkt nur erahnten, persönlichen Anziehung.
Als ich die beiden zum zweiten Mal gemeinsam treffe, soll es um Tinas aktuelles Album „Where Do You Go To Disappear“ gehen, das sie gemeinsam mit Helgi in Island produziert hat. Das Hotelzimmer ist etwas größer als beim letzten Mal, und auf dem Bett liegt diesmal Tinas und Helgis Sohn Emil, der gerade mal sechs Wochen alt ist. Ich bin selbst in diesem Jahr zum zweiten Mal Mutter geworden und bestaune als erstes, dass die nicht allzu lang zurückliegende Geburt rein optisch gesehen nahezu spurlos an Tina vorübergegangen zu sein scheint.
Tina: Ich hatte ein Photoshooting, zehn Tage nach der Geburt. Also wusste ich vorher, dass ich etwas vorsichtig sein muss, auch wegen des Albums, das nicht viel später herauskommen würde. Es war einerseits notwendig, andererseits auch nicht so schwer.
Du glückliche. Man sagt ja auch, dass man vom Stillen abnimmt, aber bei mir funktioniert das leider nicht. Vielleicht, weil ich die ganze Zeit esse.
Helgi: Aber ist das nicht gut? Essen ist doch immer gut.
Tina: Ja, Essen zu müssen ist eine der erträglichen Notwendigkeiten des Lebens.
Lass uns nochmal die Daten sortieren. Wann haben wir uns das letzte Mal in Berlin gesehen?
Helgi: Das muss im Januar letzten Jahres gewesen sein. Da hatten wir gerade einen sehr wichtigen Monat hinter uns. Tina ist kurz nach Weihnachten nach Island gekommen und wir hatten eine tolle Zeit.
Tina: Es hing damals in der Luft, wie es funktionieren würde. Würde Helgi nach Dänemark kommen? Ich dachte, ich würde nicht nach Island gehen. Aber dann habe ich einen Monat dort verbracht und nach einer Woche waren wir bereits auf der Suche nach einem Haus. Ich wusste sofort: okay, warum nicht? Und das sogar im Januar, wenn es in Island sehr dunkel ist.
Helgi: Und sehr viel Schnee liegt.
Helgi und ich haben uns dann im April in Reykjavik getroffen. Ich kann sehr gut verstehen, dass Du geblieben bist. Ich habe mich auch sofort in Island verliebt.
Tina: Island ist etwas ganz Besonderes. Und es ist mir zum richtigen Zeitpunkt in meinem Leben begegnet, nachdem ich so lange durch große Städte gereist bin. Diese Friedlichkeit in Island hat mich wie der Schlag getroffen und ich wusste: Das ist der richtige Schritt. Es ist so gut!
Ich erinnere mich, dass ich einmal Deinen Tourplan im Internet gelesen habe. Es gab Zeiten, da hast Du fast jeden Abend gespielt, überall auf der Welt…
Tina: Es war komplett verrückt. 2004 habe ich richtig angefangen zu touren und nie wirklich damit aufgehört. Helgi ist 2008 dazu gekommen.
Helgi: Dieses Jahr habe ich das erste Mal seit vielen Jahren mehrere Monate an ein und demselben Ort verbracht. Es war großartig.
Tina: Wir sind im Dezember zurück gekommen, nachdem wir beide getrennt auf Tour waren. Danach hatten wir sechs Monate, in denen wir nichts tun mussten als uns auf das Album konzentrieren. Davor haben wir beide unsere Musik immer unterwegs gemacht. Songs in Hotelzimmern geschrieben oder während Soundcheck.
Helgi: Und dann die wenigen Wochen, bevor es wieder auf Tour ging ins Studio gehen und versuchen etwas aufzunehmen.
Tina: Diesmal war es komplett anders. Auch weil wir erst einmal Zeit damit verbracht haben, ein Studio zu bauen, bei uns im Haus. Ein großartiges Studio, ein traumhafter Ort für uns beide.
Helgi: Davor hatte ich mein Studio in der Garage meiner Eltern
Tina: Ein total verrückter Ort, vollgepackt mit Skiern und Gefrierschränken. Aber ein toller Sound! Nur keine Fenster.
Helgi: Toll und schrecklich zugleich. Sehr frustrierend, wenn man kein natürliches Licht hat.
Tina: Aber Du hast dort tolle Musik geschrieben und sehr gutes Equipment gesammelt, das wir nutzen konnten, als wir unser Studio gebaut haben. Helgi ist so ein Geek, wenn es ums Aufnehmen geht, wovon ich heute sehr profitiere. Die Art, wie er arbeitet hat mein Album sehr beeinflusst. Es klingt so anders als meine früheren Aufnahmen, weil der Sound eher düster ist. Sehr tief, auf eine Art, selbst wenn man nur darauf schaut, wie es aufgenommen wurde.
Helgi: Ich fand eigentlich nie, dass es ein düsteres Album ist. Für mich ist es eher ein helles Album. Also nicht wirklich vom Klang her, mehr im Sinn von hellen Farben. Und die Texte. Wir hatten so viel Spaß bei der Arbeit.
Ich finde ja, dass es irgendwie beides ist.
Tina: Das ist gut.
Aber sogar Deine Stimme klingt irgendwie dunkler.
Tina: Das tut sie, nicht wahr? Ich glaube, das kommt daher, dass der Entstehungsprozess ruhiger war. Kein Chaos, kein Unterwegssein. Ich habe mich einfach hingesetzt und Lieder gesungen, das war viel friedlicher als sonst. Vielleicht klingt es dadurch auch ernster. Trotzdem denke ich auch, dass es fröhlicher klingt und ein paar neue Farben ins Spiel gekommen sind.
Ebenfalls auffällig ist, dass Deine Gitarre mehr denn je in den Hintergrund gerückt ist.
Tina: Das liegt daran, dass Helgi viele musikalische Ideen eingebracht hat, und er ist mehr der Klavier-Mensch.
Helgi: Es gab aber auch Lieder, die Du auf der Gitarre geschrieben hast und bei denen wir uns bewusst dafür entschieden haben, sie stilistisch woanders hinzubringen.
Tina: Ich wollte mich diesmal einfach nicht wiederholen. Also haben wir viel Neues ausprobiert. Ich meine, wieviele Alben habe ich inzwischen aufgenommen? Es war klar, dass es diesmal anders werden würde. Ich lebe jetzt woanders. Und der Prozess des Schreibens war nicht so einsam wie sonst. Ich war lange Zeit allein und habe mich sehr einsam gefühlt, beim Schreiben und beim Touren. Dann habe ich Helgi getroffen, und er versteht, wie es ist. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der das selber so gut kennt und versteht. Beim Schreiben fühle ich mich jetzt viel sicherer und möchte diese Chancen nutzen , den Mut haben Sachen auszuprobieren, von denen ich vorher vielleicht gedacht habe, sie würden nicht funktionieren.
Und in wie weit denkst Du hat die Zeit der Schwangerschaft Deine kreative Arbeit beeinflusst?
Tina: Ich glaube gar nicht mal so sehr.
Helgi: Ich denke am ehesten noch praktisch gesehen. Es hat uns die Entscheidung erleichtert, einfach an einem Ort zu bleiben.
Tina: Das stimmt, dadurch wurde es leichter sich auf eine Sache zu beschränken. Aber ich empfinde beides als sehr voneinander getrennt. Musik zu machen ist für mich etwas, das außerhalb von mir stattfindet. Ein Baby in mir zu tragen ist etwas sehr persönliches.
Helgi: Ich glaube nicht, dass das Album sehr viel anders geworden wäre, wenn Tina zu der Zeit nicht schwanger gewesen wäre.
Tina: Das glaube ich auch, seltsamerweise. Höchstens der Song „Sunrise“. Der ist inspiriert von den Sonnenaufgängen in Island. Wir beide haben die Angewohnheit eher lang zu schlafen und verpassen deshalb meistens den Sonnenaufgang. Aber in Island geht im Winter die Sonne um elf auf. Den verpasst man in der Regel nicht. Das ist der eine Inhalt des Songs, aber gleichzeitig singe ich: „It’s a new light, it’s a new day, everything’s gonna change…“ Genauso ist es. Und irgendwie auch wieder nicht. Was eine ziemliche Überraschung war, dass das Leben auch ganz normal weiter geht. Man kriegt einfach einen riesengroßen Bonus dazu.
Tina Dicos aktuelles Album „Where Do You Go To Disappear“ ist am 7. September erschienen. Aktuell sind Tina und Helgi auf Deutschlandtour und hier zu bewundern:
04.10. Oldenburg, Kulturetage
05.10. Hamburg, Laeiszhalle
06.10. Berlin, Huxleys
07.10. Mannheim, Capitol
09.10. Dresden, Wechselbad
10.10. Essen, Lichtburg
11.10. Münster, Jovel
12.10. Köln, Philharmonie
13.10. Zürich, Kaufleuten
14.10. Freiburg, Jazzhaus
16.10. Darmstadt, Staatstheater
17.10. Wien, WUK
18.10. Linz, Posthof
19.10. München, Alte Kongresshalle
20.10. Karlsruhe, Tollhaus
21.10. Stuttgart, Theaterhaus
Interview: Gabi Rudolph