Backstage im Magnet Club in Berlin an einem schönen Dienstagnachmittag im Frühling. Johnny Flynn ist gerade mit seiner Band The Sussex Wit aus Hamburg angereist. Es kursieren einige wetterbedingte Krankheiten in der Band – unter anderem hat sich der Drummer eine schlimme Mandelentzündung zugezogen, die er mit einer zweifelhaft anmutenden Brühe „selbst“ behandelt – aber trotzdem sind alle Bandmitglieder munter, inklusive des vielgelobten Singer-Songwriter-Schauspieler-Multitalents Flynn, der in Südafrika geboren ist und in England aufwuchs. Nach „A Larum“ (2008) und „Been Listening“ (2010) ist die neue Platte „Country Mile“ schon seit September 2013 in den Läden. Nach der Premiere in Cannes kommt sein nächster Film „Clouds of Sils Maria“ mit Juliette Binoche und Kristen Stewart voraussichtlich Ende 2014 in die deutschen Kinos.
Das neue Album „Country Mile“ ist im September 2013 erschienen. Hast du das Gefühl, dass das lange her ist?
Ja, besonders weil es so lange gedauert hat, die Platte aufzunehmen. Einige der Texte habe ich schon 2006 geschrieben. Das bedeutet, dass einige Lyrics auf dieser Platte älter sind als die auf meinem ersten Album. Ich führe mehrere kleine anachronistische Notizbücher, die ich hin und wieder mal aufgreife und ausarbeite. Außerdem kam im Jahre 2011 mein erstes Kind auf die Welt, also habe ich mir auch ein bisschen Zeit genommen, mich auf meine Familie zu konzentrieren.
Das Album erntet durchweg positive Kritiken.Hat sich deine Beziehung zu dem Album in dieser Zeit verändert? Ein Album kann auch manchmal wie ein neues Baby sein – ist dieses Baby mittlerweile gewachsen und überrascht es dich manchmal?
Ich glaube, das ist genau der Grund, wieso ich auf alte Notizbücher zurückgegriffen habe. Ich wollte irgendwie zusammenfassen was bis dato passiert ist, und besonders die Geschichten herausziehen, die irgendetwas mit dem Thema Reisen zu tun hatten – mit einer Reise im weitesten Sinne: nicht ausschließlich für mich als reisenden Musiker, sondern alle Reisen, die wir alle in unseren Leben unternehmen. Es ist auch verbunden mit meinem neu entbrannten Interesse mich ganz alleine auf Wanderreisen zu begeben. Die Werke von Robert Macfarlane sind eine große Inspiration für mich. Er ist ein Naturschriftsteller ganz in der Tradition des Schreibens über Landschaft, Ort, Reisen und Natur. Er bezieht sich oft auf Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau und besonders den englischen Dichter Edward Thomas, der in dem Dorf wohnte, wo ich zur Schule gegangen bin. Thomas‘ Gedichte sind mir sehr wichtig, weil sie Beschreibungen von Wanderungen durch die Berge South Downs enthalten – dort bin ich mehr oder weniger aufgewachsen. Ich finde es großartig, dass Macfarlane eine Art Bewegung herbeigeführt hat, weil ich mich dem ganzen sehr verbunden fühle. Er lässt sich sehr viel Zeit mit der Recherche und mit seinen eigenen Wanderungen. Seine Prosa ist einfach erstaunlich, jedes Buch von ihm enthält eine eigene Philosophie und eine Art und Weise in der Wildnis zu sein.
Der Ausdruck „der Weg ist das Ziel“ könnte vielleicht dazu passen. In diesem Sinne: Wolltest du, als du angefangen hast, die Platte aufzunehmen, etwas einfangen, was schon existierte, oder wolltest du etwas ganz Neues schaffen?
Ja, „der Weg ist das Ziel“ könnte die grundlegende Philosophie hinter dem Album sein und ich wollte ein bisschen von beiden erreichen: Aus den alten Texten das nehmen, was zur Gesamtkonstellation des Themas Reisen passt und dadurch etwas Neues schaffen. „Country Mile“ als erster Song schien zum Beispiel passend, weil er so eine junge, aufstrebende Energie hat, die den Anfang einer Reise gut repräsentiert. Und auch weil ich gerade ein Kind bekommen hatte und irgendwie an einen neuen Punkt gelangt bin – wie viele Menschen Ende zwanzig – an dem ich innehalte und eine Bestandsaufnahme meines bisherigen Lebens gemacht habe.
Ein deutscher Kritiker hat neulich folgendes geschrieben: „Flynn-Songs sind immer kleine musikalische Kurzfilme“. Wie klingt das für dich?
Das klingt cool. Ich interessiere mich definitiv für das Filmemachen und ein guter Kurzfilm ist sein eigenes kleines Universum. Bei einem Song hat man auch drei, vier oder fünf Minuten, um eine ganze Geschichte zu erzählen, und genau das versuche ich in meinen Songs zu machen. Auf etwas hin zu deuten wie ein Finger auf einen Ort oder ein Gefühl oder einen Zeitraum. Für mich klingt jeder Song sehr unterschiedlich.
Oft hat man als Zuhörer das Gefühl, dass du uns auf deine Reise einlädst.
Absolut. Ich bin der Meinung, dass gutes Songschreiben sehr viel Platz offen lässt für Interpretation. Und vielleicht hat der Kritiker deswegen das Wort „Kurzfilme“ verwendet statt „Kurzgeschichten“, weil es in einem Lied, ähnlich wie in einem Film, eine starke Bildsprache gibt. Ich persönlich bevorzuge Songschreiber, die sehr viel Platz lassen für das, was der Hörer mit sich bringt. Man entwickelt eine Verbindung zum Lied, und diese Verbindung macht das aus, was das Lied ist für dich. Anstatt dass der Song zu dir kommt und dich kennenlernt, verschmilzt du mit dem Lied. Ein Song kann auch über die Jahre unterschiedliche Bedeutungen haben. Wenn man ein altes Lied fünf Jahre später hört, merkt man manchmal, dass es auf einmal etwas ganz neues bedeutet.
Bist du im Moment „entfernt“ genug von dem jetzigen Album um genau dies zu erfahren?
Manchmal schon. Ich versuchen jeden Abend auf Tour meine Lieder aus einer neuen Perspektive zu singen. Ich bin jeden Abend meinen eigenen Gefühlen gegenüber sehr offen – übrigens auch meinem Gefühl gegenüber dem Publikum. In dem Sinne sind meine Erfahrungen im Theater sehr hilfreich. Dies ist die wichtigste Voraussetzung für gute Schauspielerei im Theater, wo man die gleichen Zeilen jeden Abend vortragen muss und alles irgendwie frisch halten muss.
Schön, dass du deine Arbeit im Theater erwähnst! Ich bin erst auf deine Musik gekommen, nachdem ich dich in Twelfth Night in London im Dezember 2012 gesehen habe. Ich kannte dich vorher nicht und war absolut begeistert von deiner Performance als Viola im Stück. (Anm: Flynn spielte in Shakespeares „Was Ihr Wollt“ eine Frau, die einen Mann spielt, genau wie zu Shakespeares Zeit).
Danke, Twelfth Night hat sehr viel Spaß gemacht!
Shakespeare ist für uns Nordamerikaner oft wie eine Fremdsprache. Auch bei deinen Liedern muss ich manchmal zum Wörterbuch greifen. Beim Titel „Murmuration“ zum Beispiel dachte ich, es müsste irgendetwas mit murmeln zu tun, also habe ich nach ein paar Wochen bei Wikipedia nachgeschaut.
Auch für uns Engländer ist Shakespeare oft wie eine Fremdsprache. Bei einem neuen Theaterstück ist es für mich definitiv etwas, woran ich mich gewöhnen musste. Aber je mehr ich das mache, desto mehr wirkt es auf mich. Beim Wort „murmuration“ ist es interessant – wir lernen gerade auf Tour wie es in jedem unterschiedlichen Land heißt. Gestern Abend habe ich das Publikum in Hamburg gefragt, und die haben das deutsche Wort „Vogelschwarm“ vorgeschlagen. Das passt am besten, aber murmuration ist auch etwas, das nur Stare betrifft.
Ja, genau das habe ich gelernt! Ich habe danach nicht aufhören können Star-Videos zu schauen. Ich habe lange gedacht, es hätte etwas mit einem „heart murmur“ [Herzgeräusch] zu tun, was mir auch gut gefallen hat.
Und das Geräusch hört sich an wie das Wort selbst. Es ist eine Lautmalerei. Stare fliegen wie eine bewegliche Wolke, oder wie ein Fischschwarm. Ich mag das Geräusch, das sie machen, und auch das Wort murmur.
Und jetzt zum Schluss noch ein paar alberne persönliche Fragen: Wie ist deine jetzige Beziehung zum Älterwerden?
Ich bin begeistert davon, älter zu werden. Ich kann es nicht abwarten, noch älter zu sein [lacht].
Hast du dich immer so gefühlt oder ist das etwas Neues?
Ich habe oft ältere Freunde gehabt. Und besonders ältere Freundinnen, die mir sehr viel beigebracht haben. Auch Lehrer und Leute wie Mark Rylance. Und meine zwei älteren Halbbrüder. Ich liebe die Dinge, die mit dem Älterwerden einhergehen. Ich habe das Gefühl, ich bin in mich selbst hineingewachsen. Ich war immer ein bisschen schüchtern und physisch unbeholfen. Aber jetzt, in meinem fortschreitenden Alter, bin ich sozusagen auf der Erde angekommen. Ich fühle mich furchtloser, mehr im Hier und Jetzt.
Wie ist deine Beziehung zu Freizeit? Hast du sowas noch?
Auf Tournee hat man unendlich viele Freizeit, aber man sitzt mehr oder weniger fest in einem Wagen. Also nehme ich immer mehrere kleine Schreibprojekte mit. Aber im Moment gerate ich auch damit langsam in Verzug. Zu Hause ist es anders. Mein Sohn, der gerade drei geworden ist, ist einmal die Woche im Kindergarten. Sonst ist er voll dabei. Leider muss ich die Freizeit, die ich mit meiner Frau aushandeln kann, für nervige Meetings und sowas verwenden. Also habe ich keine Zeit zum Songschreiben. Aber irgendwie schaffe ich es doch.
Und wollt ihr noch weitere Kinder haben?
Absolut. Es gibt eine Legende in unsere Familie, dass mein Vater, der Ire war, mit Absicht versucht hatte, es so hinzukriegen, dass alle seine Kinder am St. Patrick’s Day geboren werden. Leider ist keiner direkt am 17. März geboren, aber ich bin am 14. März, mein Bruder Jerome am 16. März und eine meiner Schwester ist am 9. März geboren.
Cooler Plan!
Ja, ich glaube, die Geschichte ist aber eher so, dass er einfach im Juli Lust hatte. [lacht]. Mein Sohn heisst Gabriel. Wir wollten ihn eigentlich Gwilym nennen, die walisische Version von William oder Guillaume. Aber dann meinte meine Schwiegermutter, das dürften wir nicht, weil sie einen Ex-Freund hatte, der so oder so ähnlich hieß, der vielleicht der Vater meines Schwagers sein könnte… Und das wäre ein Problem für meinen Schwiegervater gewesen!
Sag mal, wie ist dein Name genau? Manchmal steht „Joe Flynn“ manchmal „Johnny Flynn.“
Ich heiße ganz genau John-Patrick Flynn mit Bindestrich.
Das Album Cover – erzähl mal von dem Typen drauf.
Der Typ auf dem Cover ist Lou, ein Freund von mir. Er hat fast alle Fotos im Album gemacht. Er ist eine Art Reisekumpel für mich und obwohl wir nicht immer zusammen auf Reisen gehen, ist er ein großer Einfluss für mich. Er war der Erste in meinem Freundeskreis, der solche Wanderungen unternommen hat. Er ist zum Beispiel den Jakobsweg gelaufen und hat mir davon erzählt, so dass ich im darauffolgenden Jahr einen Teil des Weges drei Wochen lang bewandert und draußen in einem Ein-Mann-Zelt übernachtet habe. Es war total cool. Aber Lou macht das regelmäßiger. Er ist ein begabter Fotograf/Künstler/Bildhauer. Er macht sehr viele Fotos und bearbeitet sie manuell, also kam es mir sinnvoll vor, seine Arbeit zu für das Album zu verwenden. Manchmal, wenn ich auf Solotournee bin, kommt er mit und ist eine echt große Hilfe. Man braucht immer zwei Leute, um Merchandise zu verkaufen, usw. Ich habe es schon mal alleine gemacht und da ist immer so viel gleichzeitig zu tun. Wenn man zu zweit ist, kann man das Autofahren teilen, usw. Er ist einer meiner besten Freunde, und ich mochte die Idee, ein Bild von ihm auf dem Albumcover zu haben. Ich habe das Foto gemacht als wir in Dungeness in England unterwegs waren mit dieser fast apokalyptischen Landschaft. Im Bild sieht man ein Boot und ein kleines Häuschen, aber sonst weiß man nicht so richtig wo man ist. Dort hatte Filmemacher Derek Jarman ein Haus.
Und jetzt zum Schluss: Hast du irgendwelche Erinnerungen an oder Verbindungen zu Berlin?
Ich habe sehr warme Gefühle für Berlin. Es ist eine Stadt, in der Magie in der Luft liegt. Ich glaube aber nicht, dass ich hier wohnen könnte, das wäre für mich wie ein Wurmloch. Es scheint ein Ort zu sein, wohin man sehr gern als Künstler geht und nie wieder raus kommt. Ich war vor zehn Jahren zum ersten Mal hier, als ich einen Film gedreht habe in Deutschland. Ich war mit der Frau zusammen, die jetzt meine Frau ist und wir waren gerade dabei zu gucken, ob wir zusammen weitermachen wollten oder nicht. Ich hatte zehn Tage frei, und wir wohnten bei einem deutschen Schauspieler, der im gleichen Film gespielt hat. Wir hatten eine seltsame Zeit mit ihm, also sind wir abgehauen. Danach hatten wir eine schöne Zeit. Ich habe das Gefühl, die Stadt hat sich in der Zeit sehr viel verändert. Wir sind damals auf Partys in alten DDR-Gebäuden und besetzten Häuser gegangen.
Danke Johnny!
Interview: Julie Hagedorn