Es ist quasi zur Tradition geworden, dass Chilly Gonzales und ich uns regelmäßig, im Schnitt einmal im Jahr treffen, um über sein aktuelles Schaffen zu sprechen. Als ich in einer Hotelsuite in Berlin Mitte zum Interview erscheine, rechnen wir nach, dass dieses Mal tatsächlich zweieinhalb Jahre seit unserem letzten Treffen vergangen sind, eine ungewohnt lange Zeit. Damals stand Chilly Gonzales kurz vor der Veröffentlichung seines „Solo Piano II“ Albums, heute hat er „Chambers“ im Gepäck, sein erstes rein orchestral arrangiertes Album. Und er freut sich mich zu sehen. Es sei ihm wichtig, Menschen regelmäßig wiederzusehen, das gäbe ihm ein Gefühl dafür, wie lang er die ganze Sache schon macht, sagt er. Ich freue mich auch. Unsere Gespräche werden von Mal zu Mal angeregter, länger und interessanter. Am Ende trinken wir Tee und sprengen genüsslich den Zeitrahmen.
Wie ist es Dir seit „Solo Piano II“ ergangen?
Es gab Höhen und Tiefen. Kurz nachdem wir uns das letzte Mal getroffen haben bin ich nach Köln gezogen. Das war einerseits eine spontane Entscheidung, andererseits habe ich damals schon aus persönlichen Gründen viel Zeit in Köln verbracht, also dachte ich, ich kann auch dorthin ziehen. Dort zu leben hat tatsächlich einige Vorteile für mich, was mir damals noch gar nicht bewusst war. Ich habe viel mehr Zeit, mich auf meine Musik zu konzentrieren als in Paris, wo es mehr Ablenkung gibt, mehr private Verpflichtungen. Das Gute an Köln ist aber auch, dass es so nah an Paris ist, ich kann jederzeit hin, mein Team treffen und wen ich sonst sehen möchte. Dann reicht es mir aber auch schnell wieder und ich kann zurück nach Köln und mich auf die Musik konzentrieren. Die zwei Projekte, die ich gemacht habe seitdem ich in Köln lebe sind das „Etudes“ Buch und jetzt „Chambers“, zwei musikalisch sehr anspruchsvolle, fordernde Projekte für mich. Diese Art zu arbeiten hat mich dahin gebracht mich daran zu erinnern, warum ich überhaupt in diesen „Chilly Gonzales Shit“ geraten bin – wegen der Musik. Zwei bis drei Stunden verbringe ich jetzt jeden Tag nur mit Musik. Ich konzentriere mich auf Sachen, die nicht so viel mit meiner Karriere zu tun haben sondern mehr mit mir selber. Ich übe viel, viel mehr klassische Stücke als je zuvor, rein aus der Freude am Spielen. Das ist so inspirierend. An Tagen wie heute, wenn ich Promo mache, mache ich zwischendrin eine Pause und gehe für eine Stunde ans Klavier zum Üben, so süchtig bin ich danach. Klavier zu spielen, ohne den direkten Zusammenhang zu Chilly Gonzales, hat sich als sehr wichtig für meine geistige Gesundheit herausgestellt.
Wann hast Du nun genau angefangen an „Chambers“ zu arbeiten? Mit dem Kaiser Quartett arbeitest Du ja schon länger zusammen.
Seit „The Unspeakable Gonzales“ tatsächlich.
Das wollte ich fragen. Ich erinnere mich, Dich zu „The Unspeakable Gonzales“ live in der Volksbühne gesehen zu haben, mit Orchesterbegleitung.
Das war tatsächlich das allererste Mal, dass ich mit dem Kaiser Quartett aufgetreten bin. Du hast unseren allerersten gemeinsamen Auftritt gesehen. Es war das Kaiserquartett mit Ergänzung und einem Schlagzeuger. Martin Bentz, der Leiter des Kaiser Quartetts, hat das Ensemble zusammen gestellt. Damals hatte ich aber noch ein Ensemble in Frankreich, eins in England, eins in Kanada und eins in den USA. Es war zu teuer, immer die gleichen Musiker überall hin mitzunehmen, weshalb ich jede Show immer wieder neu erarbeiten musste. Aber, auch wenn es sehr anstrengend war, hatte ich dadurch die Chance, fünf verschiedene Ensembles miteinander zu vergleichen. Das Kaiser Quartett hat dabei einfach alle anderen geschlagen. Sie haben besser gespielt, waren fokussierter und haben mir mehr kreative Alternativen angeboten. In dem Moment, in dem ich etwas gedacht habe, haben sie es schon umgesetzt. Auf eine Art haben wir uns ineinander verliebt – wahre „Bromance“! Wir haben viele Show miteinander gespielt, 2012 dann in der Kölner Philharmonie. Danach war mir klar, ich möchte für dieses Ensemble Musik schreiben. Das ganze Jahr 2013 habe ich fast komplett mit Schreiben verbracht. Ich habe geschrieben, geschrieben, geschrieben, ihnen die Sachen geschickt und sie haben mir ihre Aufnahmen zurück geschickt. Auf die Weise habe ich überhaupt gelernt, für Streichinstrumente zu schreiben. Inzwischen kenne ich die einzelnen Musiker so gut, weiß was sie für einen Charakter haben und wie sie fuktionieren, sodass ich gezielt für sie schreiben kann. Ich weiß zum Beispiel, diese Zeile wird jemanden herausfordern, ihn vielleicht sogar frustrieren, aber am Ende wird es gut für ihn sein. Normalerweise schreibe ich für meine zehn Finger, jetzt habe ich diese vier Musiker und sehe sie auf eine Art als Erweiterung meines Klaviers. Mit Streichern kann man letztendlich noch viel mehr ausdrücken als mit dem Klavier. Sie transportieren unglaublich gut die Melancholie, die ein wichtiger Teil meiner Musik ist. Aber man kann sie auch sehr gut rhythmisch einsetzen. „Chambers“ hat mehr Rhythmus als meine Solo Piano Alben, weil sich das mit den Streichern einfach besser umsetzen lässt.
Es sind tatsächlich ein paar Stücke auf dem Album, bei denen das Klavier regelrecht in den Hintergrund rückt. „Switchcraft“ und „Advantage Point“ zum Beispiel.
Ja. Diese Stücke gehen fast mehr in die Richtung von „Ivory Tower“. Wenn man meine früheren Alben gut kennt, findet man auf „Chambers“ zahlreiche Verweise. Es ist viel mehr als eine reine Weiterführung von „Solo Piano“. Es gibt Referenzen zum 60er Jahre Minimalismus genauso wie zu den Rap Sachen, die ich gemacht habe. Und alles ist erst der Anfang. Ich habe gerade erst gelernt, auf diese Art zu schreiben. Ich meine, ich weiß wie es geht, ich habe früher schon Streicher arrangiert, ich habe in der Musikschule gelernt wie man komponiert. Aber gerade finde ich einen Weg, wie es für mich funktioniert. Letztendlich habe ich es mit dem Klavier genauso gemacht. Ich habe eine Möglichkeit gesucht, es zu einem modernen Popinstrument zu machen. Das war zehn Jahre lang meine Mission. „Chambers“ wird deshalb immer einen Einschnitt in meiner Karriere markieren, so wie damals „Solo Piano I“. Aber es wird weiter gehen. Ich arbeite immer noch daran, alte Stücke für das Quartett umzuarbeiten, damit wir sie live spielen können. Das ist sehr aufregend. Sie sind meine Band geworden. Ich habe endlich eine Band!
Das ist genau das, was ich auch dachte! Es ist das erste Mal, dass Du über so einen langen Zeitraum mit den gleichen Musikern zusammen arbeitest. Ich hatte auch das Gefühl, dass sie mehr Deine Band sind als ein begleitendes Orchester.
Die Band, mit der ich zu „Soft Power“ aufgetreten bin war mehr eine Supergroup, mit Mocky am Schlagzeug und Socalled an den Keyboards. Es ging nur sechs Monate lang und wir wussten, alle werden sich wieder ihren Solokarrieren zuwenden. Es hat sich nicht wie eine Band angefühlt. Das hier ist meine Band! Ich kann viel von ihnen verlangen, ich kann sie anschreien, sie von der Bühne werfen… auf eine gute Art arbeiten sie für mich. Es ist großartig. Obendrauf sind sie alle wahsinnig nett und es macht Spaß mit ihnen zusammen zu sein. Das ist natürlich ein großer Bonus.
Chilly Gonzales – Advantage Points (Official Video) from Chilly Gonzales on Vimeo.
Ich wollte mich im Vorfeld ja ganz besonders schlau machen und habe versucht herauszufinden, was genau die Definition von Kammermusik überhaupt ist. Das ist gar nicht so leicht, es gibt wohl mehrere Definitionen…
Sie wartet darauf, neu definiert zu werden! Das ist der Punkt.
Ist Kammermusik denn rein das weltliche Pendant zur Kirchenmusik oder gibt es auch formale Vorgaben?
Bis zu dem Punkt als die Kammermusik aufkam, war es so: es gab schon immer Folkmusik. In die Welt der Kunst hielt die Musik aber ursprünglich über die Kirche Einzug. Dann gab es Musik, die einen Zweck erfüllt: für die Krönung eines Königs oder Fanfaren, um etwas zu verkünden. Musik für offizielle Anlässe. Dann, im 19. Jahrhundert, gab es plötzlich eine Mittelklasse. Das hatte damit zu tun, wie die Gesellschaft sich verändert hat. Plötzlich gab es etwas zwischen der Aristokratie und den „Niemanden“. Und diese Mittelklasse, die Bourgeoisie, wollte sich auch aristokratisch fühlen. Sich ein Klavier zu kaufen war damals, wie wenn man sich heute ein Mac Booc anschafft. Kammermusik war der Versuch, Musik intim werden zu lassen. Heute sind deine Kopfhörer der Raum, in dem du Musik jeden Tag hörst. Damals war es die Kammer in der das Klavier stand. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der man beobachten konnte, wie es immer privater wurde, Musik zu hören. Mit Kopfhörern, einem Walkman, heute einem Telefon kannst du deinen völlig privaten Space schaffen, in dem du hörst was immer du willst, wo immer du bist. Ich glaube, dass diese Entwicklung damals mit der Kammermusik begonnen hat. Ich habe viel über diese Zeit gelesen, sie fasziniert mich sehr. Es gibt viele Parallelen zu heute. Heute gibt es rivalisierende Rap Strömungen, die miteinander konkurrieren. Tupac versus Biggy, Eastcoast versus Westcoast. Damals war es Wagner versus Brahms. Der Krieg der Romantiker. Das ist verdammt faszinierend, heute noch. Aber, um zum Punkt zurück zu kommen, Kammermusik war der Ansatz, Musik auf einer kleineren, intimeren Ebene zugänglich zu machen. Schubert Lieder zum Beispiel, die auch ein Teil der Kammermusik darstellen, konnten mit vier Musikern gespielt und deshalb auf engerem Raum gehört werden.
Dann definiert sich Kammermusik heutzutage tatsächlich hauptsächlich über die Größe des agierenden Ensembles? Bis zu neun Mitglieder hat ein Kammermusikensemble in der Regel, heißt es.
Es ist eine Sache der Größe, ja. Okay, wenn Du zehn Musiker hast kommt keiner und sagt, ohh, das ist jetzt nicht mehr Kammermusik! (lacht) Aber ja, es geht um die Größe des Ensembles. Für mich ist die Frage: kann ich die einzelnen Individuen der Musizierenden noch erkennbar machen? Daraus entsteht für mich Intimität. Wenn Du zu einer Chilly Gonzales Show kommst hast Du zwei Stunden, und in denen sollst Du alle Menschen auf der Bühne kennenlernen können. Ein Instrument erzeugt einen Ton und Du sollst sehen wer es ist, der diesen Ton erzeugt. Ah, das niedliche Mädchen mit der Klarinette oder der dicke, lustige Typ mit dem Waldhorn. EIn großes Orchester fühlt sich für mich auf eine unangenehme Weise wie eine Armee an. „Bum!“ macht es hinter Dir. Auf diese Weise zu beeindrucken ist mir zu einfach. Deshalb spiele ich meine Alben auch nie auf einem großen, imposanten Flügel ein. Es ist viel poetischer, wenn ein kleines Klavier versucht größer zu sein als es ist. Ich möchte auf der Bühne auch immer einen Kampf zeigen. Meinen mit meinem eigenen Ego, ein kleines Ensemble, das versucht so imposant wie möglich zu klingen. Der Kampf, mit akustischen Instrumenten einen elektronischen Sound nachzuahmen. „Swichcraft“ ist so ein Stück, man könnte auch denken das haben 70 Personen eingespielt. Es sind aber nur sechs! So etwas macht mich sehr stolz. Das was die Leute hören ist unser Versuch größer zu klingen als wir sind. Ist das nicht etwas Wunderschönes?
Absolut! Ich finde auch, dass es wahre künstlerische Größe ausmacht, wenn man sich als Musiker gleich starke Individuen aussucht, die mit einem auf der Bühne stehen anstatt seine Band bewusst in den Hintergrund zu stellen, aus Angst, sie könnten einen überstrahlen.
Ja! Wenn Du zum Beispiel Metronomy siehst, das sind alles gleich starke, interessante Persönlichkeiten. Man sieht sie sich alle gern an. Das macht für mich eine Band aus. Dann gibt es Künstler, die stellen sich irgendeine Band in den Hintergrund. Da sitzt dann am Schlagzeug ein Typ mit Pferdeschwanz, der viel zu alt aussieht um in dieser Band zu spielen und gelangweilt noch dazu. Es ist aber auch nicht leicht, die richtigen Leute zu finden mit denen man dauerhaft spielen will. Ich bin deshalb viele Jahre am liebsten solo aufgetreten. Mit Peaches zum Beispiel war es schon immer so und hat deshalb so gut funktioniert, weil immer klar war, dass wir zwei gleich starke Persönlichkeiten sind.
Du hast in Deiner Karriere nun schon so viele verschiedene Stilrichtungen ausprobiert, so viele unterschiedliche Sachen herausgebracht und auf der Bühne gemacht. Du hast eine treue, flexible Fanbase, die Dir quasi überall hin folgt…
…und die sich ständig erweitert! Zum Glück leben wir heute in einer Zeit, in der die Musikindustrie so strukturiert ist dass, wenn man es klug anstellt, man mit dem richtigen Projekt die richtigen Leute erreichen kann. Es gibt viel Konkurrenz um Aufmerksamkeit, aber wenn man es richtig macht und den richtigen Moment erwischt, dann hören einen hoffentlich die richtigen Leute.
Wenn ich mir Deine Tourdaten ansehe lese ich immer nur „sold out“, „sold out“…
Ich bin sehr dankbar für diese Chancen. Ich bin ein unabhängiger Künstler, ich habe mein eigenes Label und die Tatsache, dass wir es schaffen, die Philharmonie auszuverkaufen ohne Poster drucken zu müssen, das ist ein Geschenk. Vor allem hier in Deutschland. Wir hatten so unglaubliche Resonanzen auf das „Etudes“ Notenbuch, niemand hätte das erwartet. Es gab überhaupt keine Promo dafür. Manchmal passieren die Dinge einfach von selber. Diese Momente machen einem Mut. Ich muss einfach meinem Gefühl folgen, dann funktioniert es in der Regel. Und wenn nicht, dann gehört es auch dazu. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen dass ich auch die Misserfolge genossen habe, aber ich habe zumindest immer etwas daraus gezogen, die Chance ergriffen zu lernen. Und wenn immer alles glatt gehen würde, wäre es ja auch langweilig (lacht).
Das erinnert mich daran, wie Du vor ein paar Jahren in der Volksbühne die schlechten Kritiken zu „Soft Power“ vorgelesen hast.
Heute hätte ich nicht mehr das Bedürfnis so etwas zu tun. Damals hat es sich richtig angefühlt, weil so eine große Diskrepanz bestand zwischen meinen Erwartungen und der Rezeption von außen. Auch daraus habe ich etwas gelernt: manchmal ist es nicht so schlecht, seine eigenen Erwartungen etwas herunter zu schrauben. Damals konnte ich diesen Gedanken noch nicht zulassen, aber dann habe ich gelernt, dass es mir gut tut, wenn ich versuche mehr ich selbst zu sein. Spezifischer zu werden, mehr auf den Punkt. Deshalb habe ich auch das Chilly zurück in meinen Namen genommen. Ich wollte nicht einfach nur „Gonzales“ sein. Seitdem sind meine Erwartungen und die Realität sehr auf einer Linie. Und manchmal werde sie übertroffen, wie mit den „Etudes“ zum Beispiel. Vor zehn Jahren hätte ich wahrscheinlich gesagt: Du musst immer groß denken! Heute fahre ich so besser. Und mache nicht mehr so seltsame Sachen wie schlechte Kritiken auf der Bühne lesen. Ich bin mir sicher es war lustig, aber heute frage ich mich: hätte Johannes Brahms sich auf die Bühne stellen und schlechte Kritiken vorgelesen? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Richard Wagner hätte es getan! Aber ich möchte mehr wie Brahms sein. Wagner war mehr die Kanye West Figur der damaligen Zeit. Er war wahnsinnig talentiert, aber die Musik hat ihm nicht gereicht. Er wollte die Weltherrschaft. Brahms war genauso talentiert, ihm war die Musik genug. Über sein Privatleben weiß man nicht sehr viel. Wagner war mehr der Typ, der anderer Leute Ehen ruiniert hat und die Leute hinter ihrem Rücken gefickt hat. Er wollte wissen, wie weit er mit seinem Starbonus gehen kann. So ein Arsch. Ich glaube ich hätte ihm eins aufs Maul gegeben wenn wir uns getroffen hätten. Brahms war auch sehr kompliziert, wie alle Künstler, aber er hat es rein in die Musik fließen lassen. Seine Fantasie lebte in der Musik, für Wagner war die Musik ein Mittel, sein Fantasien auszuleben. In dem Fall bin ich Team Brahms. Hashtag Team Brahms. Brahms ist für mich mehr wie Drake und ich wäre lieber Drake als Kanye West. Drake ist auch ein super privater Mensch, während Kanye ständig Scheiße redet, Scheiße macht und einen Celebrity TV Star heiratet. Er lebt wie Wagner einen Fantasie aus, wei die Musik allein ihm nicht reicht. Drake lebt sein Leben und die Musik ist die Grenze dazu. So soll es sein.
Interview: Gabi Rudolph