Vor ein paar Jahren habe ich aus einer Ein-Euro-Bücherkiste eine Sammlung mit „Star-Interviews“ von Tom Kummer gezogen. Der Teufelskerl hatte sie wirklich alle. Sharon Stone, Courtney Love, Quentin Tarantino, Nicolas Cage… alles, was das Journalistenherz begehrt. Beim Lesen macht sich eine Mischung aus Faszination und Irritation breit. Faszinierend, was Kummer seinem Gegenüber so alles entlockt. Die Irritation ist schwieriger zu beschreiben, manchmal klingt es einfach erstaunlich poetisch, was die Promis so von sich geben, nahezu schwülstig. Irgendwann wird das komische Gefühl so groß, dass Google ran muss. Gab es da um die Jahrtausendwende nicht diese Geschichte mit einem Journalisten, der komplette Interviews aus anderen Publikationen zusammen geschrieben, zum Teil sogar frei erfunden hat? Bingo. Genau das ist Tom Kummer.
Seine als Hollywood Korrespondent für die Zeitschrift Tempo und das SZ Magazin geführten Interviews stellten sich als erfunden heraus, der Schweizer Journalist wurde zum Zentrum eines Medienskandals. Dabei sieht Kummer seine Technik des „Textsamplings“ als eine Form der Kunst, sich als Vertreter des „Borderline Journalismus“, in dem Fakt und Fiktion bewusst vermischt werden und der deswegen auch nur bedingt als Journalismus bezeichnet werden darf. Alternative Fakten, sozusagen.
Ehrlich gesagt fasziniert mich das Phänomen Tom Kummer. Die besagten Interviews schafften es immerhin bis in jenen vom dtv Verlag 1997 herausgegebenen Sammelband, der schließlich seinen Weg aus der Mängelexemplar Kiste in meine Hände fand. Zu einem Medienskandal von der Größe gehört definitiv mehr als ein Schlitzohr, das die Dreistigkeit besitzt, so etwas durchzuziehen.
Jetzt hat Tom Kummer wieder ein Buch geschrieben, „Nina & Tom“ heißt sein neuestes Werk. Es trägt die Bezeichnung „Roman“, bedient sich aber offensichtlich an Kummers Leben, denn es ist die Geschichte von Nina, seiner großen Liebe, Ehefrau und Mutter seiner Kinder, mit der er 30 Jahre seines Lebens verbrachte und die 2014 an Darmkrebs starb. Gewidmet ist es den beiden gemeinsamen Söhnen Henry und Jack, eine Vorstellung, die einen nach der Lektüre mit leichtem Unwohlsein erfüllt. Es ist kein Nachruf nach gängigen Maßstäben – aber was entspricht bei Tom Kummer schon gängigen Maßstäben. „Mein persönlicher Bericht auf Ninas Kosten“, schreibt er ganz am Ende. „Sie wird mich umbringen, wenn sie davon erfährt“. Wie schrecklich, der Liebe seines Lebens gegen ihren Willen ein derartig schonungsloses Denkmal zu setzen. Andererseits, wer weiß ob das überhaupt so stimmt. Wenn man bei Tom Kummer etwas sicher weiß, dann dass man nie etwas sicher weiß.
Seine Nina beschreibt er als manisch haltloses Wesen mit bipolaren Störungen. Ihren dürren, unweiblichen Körper, der meist in schrägen Fetisch-artigen Outfits steckt, stilisiert er zum fleischgewordenen Männertraum. Die sexuelle Komponente der Beziehung ist aggressiv, es wird gewürgt, am Penis klebt regelmäßig Blut, auch geht es stets um körperliche Grenzüberschreitungen – bis zum Schluss, wenn Kummer schreibt, wie er seine Hand zwischen die Beine seiner auf Morphium dahinsiechenden Frau legt. Die ständige Betonung charakterlicher Extreme nervt dann auf die Dauer auch ein bisschen. Das Motiv des sich aneinander aufreibenden Paares im Party- und Drogenmilieu ist auch nicht so neu, man hat nicht allzu viel Lust, an so viel geballter Destruktivität teilzuhaben.
Es ist aber auch nicht das „was“ sondern das „wie“, das „Tina & Tom“ letztendlich doch interessant macht. Die Direktheit, mit der Tom Kummer nicht nur seine Nina sondern auch sich selbst offenbart, ist verstörend und faszinierend zugleich. In dem völligen Verzicht darauf, gemocht zu werden, ist er stets konsequent. Aber ist das jetzt alles auch tatsächlich so wahrhaftig, wie es streckenweise rüber kommt?
Tatsächlich deckte ein Rezensent der Süddeutschen Zeitung erst kürzlich auf, dass auch in „Nina & Tom“ nicht alles aus erster Hand ist. Ganze Sätze hat Tom Kummer aus Werken von Frédéric Beigbeder („39,90“), Richard Ford („Rock Springs“) und Kathy Acker („Harte Mädchen weinen nicht“) übernommen und sich zu eigen gemacht. Der Aufbau Verlag reagierte auf die Enthüllung einigermaßen gelassen und kündigte an, eine zweite Ausgabe mit Quellenangaben zu versehen. Inzwischen ist man ja klüger als vor zwanzig Jahren. Sich über so etwas allzu überrascht zu zeigen, wenn man sich auf Tom Kummer einlässt, wäre fast schon albern.
Natürlich macht man sowas nicht. Und natürlich ist es moralisch fragwürdig, jemanden immer wieder gewähren zu lassen, dem es diesbezüglich schlichtweg am entsprechenden Unrechtsbewusstsein mangelt. Trotzdem liegt „Nina & Tom“ eine ganz eigene, nicht zu verleugnenden Qualität zugrunde. Man kann es nach gängigen Maßstäben kaum bewerten. Wenn man liest, was die Netzwelt dazu zu sagen hat, dann sieht man, dass die Geister sich extrem scheiden – und dann auch noch stets in unterschiedliche Richtungen. „Nina & Tom“ wird automatisch rein emotional verwertet. Es gibt hier kein gut oder schlecht, nur Gefühl, und da stößt jeder an seine eigenen Grenzen. Auch was man Kummer jetzt eher glauben mag, die Schilderung der Exzesse und Extreme in jungen Jahren oder später das gepflegte Familienidyll mit zwei Kindern, ist jedem selbst überlassen. Der Wahrheit am nächsten kommt letztendlich der Tod zum Schluss.
Aber es soll ja wie gesagt auch ein Roman sein. Dass man sich um das Thema Wahrheit überhaupt so viel Gedanken macht, ist der Person Kummers geschuldet. Verrückt ist das. Und verrückt ist schon mal wenigstens eins nicht: langweilig.
Info: „Nina & Tom“ von Tom Kummer ist im März bei Blumenbar/Aufbau Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden.
Gelesen von: Gabi Rudolph