Ohne Frage, T.C. Boyle ist einer der größten zeitgenössischen Erzähler, die Amerika, wenn nicht die Welt, zu bieten hat. Und er ist wichtig. Sowohl er selbst, als auch mit seinem Werk, legt er den Finger immer wieder in die Wunde des Zeitgeschehens und der Vergangenheit. Zu seinen immer wieder kehrenden Themen gehören dabei der Kampf um das ökologische Gleichgewicht sowie die Abhängigkeit von Guru-artigen Persönlichkeiten und Sekten ähnlichen Strukturen. In seinem 1995 erschienenen Roman „The Tortilla Curtain“ schreibt er vom Bau einer Mauer in Kalifornien als Mittel gegen illegale mexikanische Einwanderer – wie erschreckend prophetisch. Boyle hat ein untrügliches Gespür für große, polarisierende Themen und skurrile Figuren.
Für seinen aktuellen Roman „Die Terranauten“ nahm er sich ein Anfang der neunziger Jahre durchgeführtes Experiment als Grundlage. Der in Arizona erbaute Komplex „Biosphere 2“, privat finanziert von einem amerikanischen Milliardär, sollte beweisen, dass langfristiges Leben in einem geschlossenen Ökosystem möglich ist. In zwei Missionen wurde eine Gruppe von Menschen in Biosphere 2 eingeschlossen, mit dem Ziel, das Ökosystem am Laufen zu halten und das eigene Überleben zu sichern, ohne jegliches Eingreifen von außen. Die erste Mission, mit einer Dauer von zwei Jahren, ist in soweit gescheitert, dass zu viel Sauerstoff vom Beton der Konstruktion absorbiert wurde und ab dem zweiten Jahr ein Überleben ohne Zufuhr von externem Sauerstoff nicht mehr möglich gewesen wäre. Der zweite Einschluss dauerte nur sechs Monate.
T.C. Boyle übernimmt die Grundlagen des Biosphere 2 Experiments recht detailgetreu für seine Terranauten Vision. Er konzentriert sich auf die zweite Mission, für die sich vier Männer und vier Frauen für zwei Jahre in das geschlossene Ökosystem begeben, das bei Boyle „Ecosphere 2“ heißt. Das Ziel: diesmal die absolut ungebrochene Versiegelung der Luftschleuse aufrecht zu halten und keinerlei Austausch mit der Außenwelt vorzunehmen. Während Mission 1 musste die Schleuse geöffnet werden, als eine Terranautin sich an der Hand verletzte. Auch hier bedient Boyle sich an der Realität: während des ersten Biosphere Experiments musste Jayne Poynter den Einschluss wegen einer Handverletzung unterbrechen und das Ökosystem kurzzeitig verlassen. Poynter schrieb ihre Erlebnisse später nieder und veröffentlichte sie unter „The Human Experiment: Two Years And Twenty Minutes Inside Biosphere 2“, Boyle gibt ihre Memoiren zu Anfang als eine der Grundlagen für seine Recherchen an.
Es herrscht also viel Ehrgeiz unter den Terranauten von Mission 2. Man will es besser, um nicht zu sagen perfekt machen. Drei Agierende kommen abwechselnd zu Wort: die eingeschlossenen Dawn Chapman und Ramsay Roothoorp, sowie die zu kurz gekommene, nicht für die Mission ausgewählte Linda Ryu, die die Geschehnisse als Teil der Crew von außen verfolgt.
Das alles liefert viel Stoff für Konflikte und das Ausloten menschlicher Grenzen, körperlich wie emotional, eigentlich ein perfekter Stoff für Boyle. Doch leider hat er sich mit „Die Terranauten“ verhoben wie selten zuvor. Das liegt hauptsächlich an seinen Figuren, die allesamt komplett eindimensional bleiben. Dawn ist die Mater Dolorosa, die bis zur Selbstaufgabe mit der Mission verschmilzt. Linda Ryu hat im Lauf der 600 Seiten starken Geschichte nicht viel mehr zu tun, als sich vor Selbstmitleid und Gehässigkeit zu zerfleischen. Das zieht sie so konsequent bis zum Schluss durch, dass man irgendwann nahezu versucht ist, ihre Kapitel voller Aggression zu überblättern. Und Ramsay Roothoorp ist ein bisschen der MacGyver unter den Terranauten. Seine Motivation ist der pure Ehrgeiz. Er darf so rumpelig, unsensibel und klischeehaft männlich wie nur möglich bleiben. Die offensichtlichen Versuche, seiner Figur durch das Zitieren aus Literatur und Lyrik mehr Tiefe zu verleihen, wirken dabei nahezu lächerlich.
Die Konflikte der Terranauten untereinander sowie die Linda Ryus außerhalb der Glaskuppel sind mit Sicherheit bewusst im Soap-Opera Milieu angesiedelt. Das hätte durchaus reizvoll sein können, plumpes menschliches Aufeinandertreffen auf Big Brother Niveau, aber innerhalb einer Gruppe für eine Mission ausgebildeter Menschen mit hohem intellektuellem Potential. Leider bleibt Aspekt Nummer zwei dabei vernachlässigbar. Als Dawn und Ramsay ein Paar werden, Dawn ungewollt schwanger wird und die Frage aufkommt, ob es möglich ist, ein Kind in Ecosphere 2 zur Welt zu bringen, verliert sich die Dynamik der Gruppe in nichts weiter als Gezicke. Das wird bis zum Schluss kaum gebrochen, es gibt keine Seitenwechsel oder retardierende Momente, in denen die Karten neu gemischt werden. Am Ende kann man für jede der Figuren eigentlich nur noch Verachtung übrig haben. Für den von jeglicher Verantwortung überforderten Ramsay über die manchmal schmerzlich naive aber rücksichtslos ihr Ding durchziehende Dawn bis zu der unerträglich missgünstigen, völlig unreflektierten Linda. Die restlichen Terranauten verkommen zu einem undefinierbaren Menschenmatsch, der, was auch immer passiert, grundsätzlich erst einmal die Gegenposition zu Dawn und Ramsay einnimmt.
Es hätte so schön sein können, so erhellend und dabei so polarisierend. Leider bleibt „Die Terranauten“ hauptsächlich flach und ist dabei selbst oberflächlich nur leidlich spannend. Aber wer so viel in seinem Leben geleistet hat wie T.C. Boyle, der darf sich auch mal vertun. Seinen nächsten Roman kann man mit Sicherheit besten Gewissens wieder in die Hand nehmen.
Info: „Die Terranauten“ ist der bereits 16. Roman des amerikanischen Schriftstellers T.C. Boyle. Er ist bei Hanser Literaturverlage erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Im Februar wird T.C. Boyle „Die Terranauten“ in Deutschland präsentieren. Alle Termine gibt es hier.
Gelesen von: Gabi Rudolph