Gelesen: Nico Walker „Cherry“

„Die Geschichte in diesem Buch ist frei erfunden. Diese Dinge sind nie geschehen. Diese Menschen haben nie existiert“, heißt es zu Beginn von Nico Walkers Debütroman „Cherry“. Er handelt von einem jungen Mann, der sich aufgrund von Perspektivlosigkeit entscheidet, mit 19 Jahren als Militärsanitäter in die Armee einzutreten. Er heiratet seine Jugendliebe Emily, bevor er im Irak stationiert wird, wo er zahlreiche Kameraden sterben sieht aber selbst unverletzt nach Hause kehrt. Zurück in Ohio leidet er an posttraumatischen Störungen, wird heroinabhängig und fängt an, Banken zu überfallen um seine Sucht zu finanzieren.

Dass Nico Walker sich diese Geschichte nicht aus dem Blauen heraus ausgedacht hat, dass das alles vielleicht nicht ganz so konsequent erfunden ist wie er zu Anfang behauptet, wird deutlich wenn man sich seinen Lebenslauf ansieht. Denn auch Nico Walker selbst war als Militärsanitäter an mehr als 250 Einsätzen im Irak beteiligt. Er hat zehn Banküberfälle verübt und sitzt deshalb aktuell eine elfjährige Gefängnisstrafe in einer Haftanstalt in Kentucky ab. Seinen ersten Roman fing er an auf Anregung eines Verlegers zu schreiben, der ihm Briefe ins Gefängnis schickte und ihn dazu ermutigte, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Vier Jahre schrieb Walker an „Cherry“, auf der Schreibmaschine in der Gefängnisbibliothek und mit Unterstützung seines Lektors per Telefon. Als seine, wohl mehr als nur ein bisschen autobiografisch gefärbte Erzählung letztes Jahr in den USA herauskam, sorgte sie unmittelbar für Begeisterungsstürme. Vor allem weil Nico Walker zwei der großen amerikanischen Themen angreift: den Irakkrieg und die Opioid-Krise – der drastische Anstieg der Zahl der Drogentoten gilt als einer der Gründe dafür, dass 2017 die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA das dritte Jahr in Folge erstmals seit dem Ersten Weltkrieg gesunken ist. Natürlich ist Nico Walkers Roman nicht der erste, der über Drogenabhängigkeit, posttraumatische Störung und den Irakkrieg geschrieben worden ist. Die große Aufmerksamkeit, die Walker für „Cherry“ bekommt, liegt zum Teil natürlich an der ungewöhnlichen Entstehungsgeschichte. Gleichzeitig wird der Roman dadurch noch unmittelbarer, denn daran, dass der gerade mal 34 Jahre alte Nico Walker weiß wovon er erzählt, besteht kein Zweifel.

Er tut dies auch mit einer erstaunlichen Mischung aus Kunst und Authentizität. Seine Sprache ist unmittelbar und gleichzeitig kraftvoll, seine Geschichte erzählt er mit einer angemessenen Schonungslosigkeit, die abstößt, aber auch einen gewissen Reiz ausübt. Dass man sich nach einer Weile trotzdem ein wenig durch „Cherry“ hindurch quält, ist natürlich der Thematik geschuldet, aber auch der Ehrlichkeit, mit der Nico Walker sie anpackt und die zum Teil so kompromisslos ist, dass die Unterhaltungsqualität unwillkürlich darunter leidet. Der Einsatz im Irak ist keine spannende Episode, ebenso wenig das Leben als Junkie, und auf absurde Weise gleicht sich beides in mancher Hinsicht. Es herrscht eine alles überschattende Stumpfheit in „Cherry“, sei es wenn die Kameraden im Irak vor Langeweile Gewaltpornos schauen und Snuff-Filme mit Mäusen drehen, oder wenn Junkie- und Dealerkumpel lange Tage damit zubringen zu überlegen, wo der nächste Schuss herkommt und woher das Geld dafür. Und auch die Liebe bringt keine Erlösung, sondern nur noch mehr Schmerz. Das ist zum Teil so elendig, so zäh und so deprimierend, dass man immer mal wieder das Bedürfnis verspürt, das Buch für eine Weile aus der Hand zu legen.

Eine der großen Stärken von „Cherry ist“, dass Walker für seine Hauptfigur kein Verständnis, geschweige denn Absolution zu erheischen versucht. Es geht ihm nicht darum, eine kathartische Wandlung zu erzählen. Das Ende wird zu Anfang vorweg genommen, er führt nur noch konsequent darauf hin. Und nur so funktioniert die Geschichte, ohne einen Funken Sentimentalität. Im Nachwort gibt Nico Walker zu, dass er viel Unterstützung dabei hatte, seine Schreibergüsse in eine veröffentlichbare Form zu bringen. Seine eigene Stimme hat er in diesem Prozess offensichtlich trotzdem gefunden. Und auch wenn es einen ab und zu quält, am Ende ist man froh, dass man sie gehört hat.

„Cherry“ von Nico Walker ist in Deutschland bei Heyne Hardcore erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Eine Leseprobe gibt es hier

Gelesen von: Gabi Rudolph