Marlon James’ Roman „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ ist vor allem eins: nicht kurz. 850 Seiten ist James’ Jamaika Epos stark, ein ganz schöner Brocken, sowohl vom Umfang her als auch inhaltlich. Dass das Ganze von sieben Morden handeln soll, wirkt auch eher ironisch, denn gemordet wird hier eigentlich gefühlt ohne Pause. Aber kurz vor Ende der Seitenflut schließt sich der Kreis dann doch und die so lange als unpassend gefühlte Titelgebung macht plötzlich Sinn.
Bis dahin muss man aber durch einiges durch. Durch fünf Teile der Geschichte mit am Anfang über 70 angegebenen handelnden Personen, von denen ein Teil abwechselnd zu Wort kommt. Es geht um Bandenbosse, Ghetto-Kids, einen bereits verstorbener Politiker, einen Journalist, einen CIA Agent und nicht zuletzt um einen berühmter Reggae Sänger. Es ist natürlich Bob Marley, um den es hier geht, auch wenn er nie mit Namen genannt wird. Dreh- und Angelpunkt der ausufernden Geschichte, die sich weit über die Grenzen Jamaikas hin erstreckt ist nämlich das real statt gefundene Attentat, das am 3. Dezember 1976 auf Bob Marley verübt wurde.
In Kingston, dem Nobelviertel und Wirtschaftszentrum von Jamaika steht Bob Marleys Haus, streng bewacht und abgeschirmt. Trotzdem gelingt es an jenem Tag einer Gruppe von sieben schwer bewaffneten Männern, sich Zugang zu verschaffen und auf Marley, seinen Manager und seine Frau Rita zu schießen. Alle drei werden verletzt, Marley nur leicht, getötet wird niemand. Bis heute ist nicht viel über die Hintergründe des versuchten Mordes bekannt. Marlon James kombiniert das wenige, das er herausfinden konnte mit geschickt gestrickter Fiktion. Was dabei den Tatsachen entspricht und was nicht, ist letztendlich auch unwesentlich. „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ lebt von seiner überbordenden Erzähllust und seinem steten Perspektivenwechsel. Da gibt es Papa-Lo, den Don von Copenhagen City (einem Teil von Kingston, der in Wirklichkeit Tivoli Gardens heißt) und seine rechte Hand Josey Wales, die dem „Sänger“ (wie Marley stets genannt wird) gegenüber unterschiedliche Ziele verfolgen. Das Mädchen Nina Burgess, das eine Nacht mit dem Sänger verbracht hat und fürchtet von ihm schwanger zu sein, den Rolling Stone Journalisten Alex Pierce, der eigentlich nach Jamaika gekommen ist um eine Story zu schreiben und am Ende einer der wenigen wird, der weiß, wer die Schüsse auf den Sänger tatsächlich abgegeben hat. Dann noch diverse Gangmitglieder, die in das Attentat verwickelt sind und zum Teil noch ihren eigenen Tod erzählen.
Das Attentat ist der Dreh- und Angelpunkt, von dem sich Marlon James immer wieder entfernt, um ihn an späterer Stelle plötzlich wieder aufzunehmen. Darüber hinaus zeichnet „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ ein Bild davon, wie das Leben auf Jamaika in den späten siebziger Jahren insgesamt ablief. Zwei Parteien bekämpfen sich zu dieser Zeit, die regierende PNP und die konkurrierende JLP, die Druck von Rechts macht. Besonders über diesen Teil der Geschichte lohnt es, sich zwischendrin etwas Hintergrundwissen anzulesen, denn bei aller Erzählwut hält sich Marlon James wenig mit der Schilderung von Hintergründen auf. Das macht das Folgen manchmal etwas schwierig, streckenweise recht anstrengend. Durch den ständigen Perspektivenwechsel wird die Möglichkeit, beim Lesen in einen konstanten Flow zu kommen, zusätzlich erschwert. Gleichzeitig macht er aber auch den Reiz in James’ Erzählung aus.
Es ist ein vielschichtiges, mit Figuren und Handlungssträngen nur so vollgepacktes Werk, das vieles erzählt und gleichzeitig vieles im Dunkeln lässt. Marlon James, der selbst homosexuell ist, lässt auch eine Reihe schwuler Charaktere zu Wort kommen, deren Situation in Jamaika bis heute prekär ist. Dass „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ vielfach ausgezeichnet wurde, nicht zuletzt mit dem renommierten Man Booker Prize, hat entsprechend seine Berechtigung. Es zu bewältigen kommt aber eher einer sportlichen Herausforderung als einem entspannten Lesevergnügen gleich. Man ist fast ein bisschen erleichtert, wenn man diese 850 Seiten von der Brust hat, sie wiegen nicht nur schwer in der Hand sondern ebenso im Gemüt.
Info: „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ von Marlon James ist bei Heyne Hardcore erschienen und kann hier käuflich erworben werden.
Gelesen von: Gabi Rudolph