Gelesen: Lana Lux „Kukolka“

Es gibt Geschichten, die sind so schrecklich, man möchte mit ihnen eigentlich gar nichts zu tun haben. Man hat ja schon selbst genug vor der Brust. Mein Haus, mein Auto, mein Leben, wenn das einigermaßen läuft, dann kann man heutzutage ja schon froh sein.
Lana Lux hat mit ihrem Debütroman „Kukolka“ so eine Geschichte geschaffen, eine von der man sich überlegen sollte, ob man sie hinein lassen möchte, in seinen Kopf, sein Herz, in die eigene kleine, beschränkte Welt. Sie beginnt in den Neunziger Jahren in einem Kinderheim in der Ukraine und endet in Berlin, an einem Ort wo niemand enden möchte. Lana Lux wurde 1986 in der Ukraine geboren und kam mit zehn Jahren mit ihren Eltern nach Berlin. Laut Spiegel kam ihr die Idee zu „Kukolka“ während eines VHS Seminars zum Thema Kinderbuch. Es ist die Beschreibung einer Anti-Kindheit, einer die nicht sein darf, deren Existenz man gerne verleugnen möchte.

Im Kinderheim gehört die siebenjährige Samira zu den Kindern, die es nie anders gekannt haben. Das verschafft ihr einen Vorsprung, denn sie hat keinen Vergleich, wie es sonst sein könnte. Sie hat gelernt, den Regeln zu folgen und durch möglichst wenig auffallen den Bestrafungen zu entgehen. Und wenn es doch einmal dazu kommt, hat sie gelernt zu ertragen. Im Gegensatz zu Marina, die Neue, die von ihrem Vater angeblich nur über den Sommer abgegeben wurde und fest daran glaubt, ihre Zeit im Heim sei nur ein Übergang. Drei gemeinsame Strafnächte auf dem Fußboden des Waschsaals lassen eine Freundschaft entstehen, aber schließlich ist es Marina, die von einem deutschen Ehepaar adoptiert wird. Samira beschließt, der Freundin zu folgen, aber natürlich landet sie nicht wie geplant im Zug nach Deutschland, sondern in einem Haus mit Rocky, der nach Schweiß und Zwiebeln riecht und eine Gruppe von Jugendlichen um sich geschart hat, um die er sich „kümmert“. Er nennt Samira Kukolka, das Püppchen mit der dunklen Haut, den schwarzen Haaren und den unglaublichen grünen Augen, denen niemand etwas abschlagen kann. Wie die anderen schickt er sie zum Betteln auf die Straße, worin sie sich als echtes Talent erweist. Aber die Zweckgemeinschaft ähnelt nur oberflächlich einer Familie: Lydia, die mit Rocky ein Bett teilt und sich ein Baby von ihm wünscht, Dascha, die ihr Leben lang missbraucht worden ist und von allen nur noch „Zombie“ genannt wird und Ilja, der einmal einen Mord mit ansehen musste und seitdem keine Augen mehr hat. Sie versuchen eine Normalität zu leben, die keine ist. Es gibt Streit und Eifersucht, und nicht selten endet ihre Reise mit dem Tod.

Lana Lux schont weder ihre Leser noch ihre Figuren. So kommt leider schmerzlich wenig Hoffnung auf, als der schöne Dima auftaucht und Samira von der Straße weg holt. Erst in seine Wohnung, später ins weit entfernte Berlin, dem Ziel aus Samiras Träumen, denn nie hat sie die Hoffnung aufgegeben, ihre Freundin Marina wiederzusehen, die ihr einmal per Brief ein Bett bei sich im Zimmer versprochen hat. Das Schicksal, das Samira droht scheint vorbestimmt und unabwendbar. Mehr als einmal fragt man sich, warum man das alles dann überhaupt lesen soll. Aber zu stark ist wiederum der Sog, der von dieser Erzählung ausgeht, man ist angewidert und gefesselt gleichermaßen.

Lana Lux macht einfach vieles richtig, sodass „Kukolka“ weit mehr geworden ist als ein abstoßender Horrortrip. Die Ich-Perspektive stimmt sprachlich, keine Künstlichkeit stört hier, alles wird erschreckend greifbar. Auch setzt Lana Lux nicht nur auf plakatives Ausschmücken von Grausamkeiten. Je tiefer Samira in ihrem persönlichen Sumpf versinkt, desto mehr erzählerische Distanz entwickelt sie zu den Qualen, die sie durchleiden muss. Als würde ihr mehr und mehr die Kraft abhanden kommen sich mitzuteilen, beschränkt sie sich auf Zeitraffer und Andeutungen. Zu dem Zeitpunkt ist man als Leser schon so mit ihr verbunden, dass es nicht viel mehr bedarf, um die Gräuel im Kopf weiter entstehen zu lassen. Lana Lux weiß, wie weit sie gehen muss, aber auch wo es sich lohnt Grenzen zu ziehen. Auf diese Weise strapaziert sie ihre Geschichte nie über – sie hat sich ab einem gewissen Punkt längst verselbständigt.

Die größte Stärke von „Kukolka“ ist jedoch, dass die Figur der Samira mehr ist als ein naives Opfer. Es gab nie eine heile Welt, aus der sie hätte fallen können. Und trotzdem ist da immer ein weiter unten, in das man rutschen kann. Am Ende wundert Samira sich selbst, wie es so weit mit ihr kommen konnte. War sie damals im Heim nicht die Schlauste, die, der man so schnell nichts vorgemacht hat? Wie konnte sie all das glauben, das der schöne Dima ihr versprochen hat? Und warum hat sie jetzt, da sie alles klarer sieht, immer noch Anflüge von Sehnsucht nach dem Mann, der sie bewusst ins Verderben geschickt hat?

Man wünscht es ihr so sehr, dass sie einen dauerhaften Ausweg findet. Lana Lux lässt am Ende von „Kukolka“ Platz für Hoffnung. Die braucht man auch, um sich von diesem Höllentrip zu erholen. Aber die lang ersehnte Wiedervereinigung mit Kindheitsfreundin Marina lässt blicken, wie weit entfernt Samira von jeglicher Normalität steht. Wie will man etwas für sich beanspruchen, das man nie kennengelernt hat? Es ist schwer, sich ein Happy End für Samira vorzustellen. Genauso schwer ist es, sich nach der Lektüre dieses Buches gut zu fühlen. Und trotzdem ist man auf eine seltsame Art bereichert. Es kann auch ganz befreiend sein, ab und zu über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken.

Info: Lana Lux lebt und arbeitet als Schauspielerin und Autorin in Berlin. Ihr Debütroman „Kukolka“ ist im Aufbau Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Eine Leseprobe gibt es hier

Gelesen von: Gabi Rudolph

www.aufbau-verlag.de