Eine Frau beschließt von einem Tag auf den anderen Vegetarierin zu werden und fortan auf alle tierischen Produkte in ihrem Leben zu verzichten. Eine absolut nachvollziehbare, nach westlichen Gesichtspunkten nicht ungewöhnliche Entscheidung, aber in Han Kangs Roman „Die Vegetarierin“ löst sie eine Spirale von Ereignissen aus, die nicht nur für die Vegetarierin selbst weitreichende Konsequenzen hat.
Wer aber eine klassisch kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Vegetarismus sucht, wird von Han Kangs Werk gelinde gesagt irritiert sein. Die bereits 2007 in Korea erschienene, jetzt erstmals in deutscher Übersetzung vorliegende Erzählung beantwortet wenige der Fragen, die man sich zu dem Thema stellen könnte. Sie folgt stattdessen dem Weg der Titelfigur in drei Kapiteln und erzählt von dem lebensverändernden Einfluss, den die Entscheidung der Vegetarierin auf ihre Umwelt hat.
Es beginnt alles damit, dass der Ehemann, ein durchschnittlicher, koreanischer Geschäftsmann, seine Frau Yeoung-Hye eines nachts in der heimischen Küche vor dem Kühlschrank wiederfindet, wie sie sämtliche tierischen Produkte aussortiert und entsorgt. Sie habe einen Traum gehabt, erklärt sie sich eher mysteriös. Die Weigerung Fleisch und Fisch zu essen ist aber nicht die einzige Veränderung, die der Ehemann an seiner Frau bemerkt. Seine bis dato völlig gewöhnliche, eher leidenschaftslose Frau wird ihm zunehmend fremd. Sie weigert sich ihn zu berühren, da sie den Fleischdunst, der wie sie sagt von seinem Körper ausgeht, nicht mehr ertragen kann. Sie spricht noch weniger als sonst, kleidet sich aber auffälliger, trägt keinen BH mehr und bewegt sich in der Wohnung gerne nackt. Bei der Schilderung eines Essen mit den Geschäftspartnern und deren Ehefrauen zeigt sich, wie wenig gesellschaftlich anerkannt das Phänomen des Vegetarismus in Korea noch zu sein scheint. Yeoung-Hes Weigerung Fleisch zu essen und ihre mangelnde Teilnahme am gemeinsamen Essen sorgen für große Irritationen und beim Ehemann für die Angst, dass das Verhalten seiner Frau negativ auf ihn zurückfällt. Beim Geburtstagsessen der Schwester gipfelt der Konflikt sogar in einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit Yeoung-Hes Vater, der seine Tochter mit Gewalt dazu zwingen möchte, Fleisch zu essen.
In den zwei darauffolgenden Kapiteln wechselt Han Kang die Perspektive und lässt neben dem Ehemann den Schwager und die Schwester zu Wort kommen. Alle drei vereint die Tatsache, dass ihr Schicksal auf unterschiedliche Weise eng mit dem Yeoung-Hes verknüpft sind. Es geht um die Auswirkungen einer skurril leidenschaftlichen Affäre und um den Versuch, jemanden im und am Leben zu erhalten, der sich selbst eigentlich schon längst für den Ausstieg entschieden hat.
Und dies scheint das eigentlich zentrale Thema von Han Kangs Erzählung zu sein, im Rahmen dessen der Vegetarismus nur ein Auslöser ist, ein Kniff um die Figuren mit der entscheidenden Frage zu konfrontieren, wo Selbstbestimmung ihre Berechtigung hat und wo sie aufhört – oder ob sie überhaupt eine Grenze haben sollte. Auf diese Weise erzählt „Die Vegetarierin“ die Geschichte einer Frau, die ihr Leben immer danach ausgerichtet hat, das zu tun was man von ihr erwartet und darüber hinaus möglichst wenig aufzufallen – und die sich am Ende mit aller Macht dafür entscheidet, einen anderen, eigenen Weg zu gehen.
Han Kangs erzählt die Geschichte geradlinig, ohne große Umwege, mit der emotionslosen Knappheit eines Tatsachenberichts. Ihre schlichte, schmucklose Sprache und die klare, knappe Struktur des Romans machen die Geschichte aber noch unmittelbarer und trotz aller offen bleibenden Fragen spannend, verstörend und gleichzeitig überaus berührend.
Info: Han Kang wurde in Gwangju, Südkorea geboren. Derzeit unterrichtet sie Kreatives Schreiben am Kulturinstitut Seoul. Ihr im Aufbau Verlag erschienene Roman „Die Vegetarierin“ wurde mit dem Man Booker International Prize 2016 ausgezeichnet. Er ist als Hardcover und eBook hier erhältlich.