Gelesen: Gerhard Falkner „Romeo oder Julia“

Wie klein aber entscheidend doch der Unterschied ist, wenn man ein „und“ gegen ein „oder“ austauscht. Der Titel von Gerhard Falkners neuem Roman „Romeo oder Julia“ lässt bereits vermuten, dass es hier nicht um eine romantische Vereinigung gehen kann. Das „und“ vereint, das „oder“ entzweit. Oder geht es vielleicht sogar so weit, dass am Ende nur einer übrig bleiben kann?
Die skurrilen Ereignisse, in die sich Falkners Hauptfigur, der Schriftsteller Kurt Prinzhorn zunehmend verwickelt sieht, beginnen mit einem Büschel Haaren in einer Badewanne. Der Schriftsteller entdeckt sie im Bad seines Hotelzimmers, in dem er während eines Literaturkongresses in Innsbruck weilt. Lange, dunkle Frauenhaare am Kopfende der Badewanne, vermischt mit einem Rest Seife. Als er von einem morgendlichen Spaziergang zurückkehrt, sind sie plötzlich da, und es sind nicht nur ein paar. Sie wirken, so konstatiert Prinzhorn, „durch ihre Schwärze irgendwie katastrophal“. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als habe der sonderbare Eindringlich nur etwas zurück gelassen, nichts mitgenommen. Erst später stellt Prinzhorn fest, dass auch sein Schlüsselbund fehlt.
Die seltsamen Vorkommnisse setzen sich auch in Moskau und Madrid fort, den nächsten Stationen von Prinzhorns Reise. Wo auch immer er sich bewegt, werden geheimnisvolle Botschaften für ihn hinterlassen. Das offensichtliche Gefühl, dass ihn jemand verfolgt, verstärkt sich zunehmend. Die Moskauer Episode seiner Reise endet mit den Worten: „Romeo oder Julia: peng peng.“ Gesprüht an die Tür seines Hotelzimmers. Will ihm da etwa jemand so richtig ans Leder?
Der Verweis auf die tragische Figur der Julia und bereits die langen, schwarzen Haare in der Innsbrucker Badewanne legen den Verdacht nah, dass es sich bei der Verfolgerin um eine Frau, eine abgelegte Geliebte handeln muss. Davon, so erweckt dieser Mann den Eindruck, hat es in seinem Leben schon einige gegeben. Prinzhorn tappt im Dunkeln und braucht selbst noch eine Weile um zur finalen Erkenntnis zu kommen, als die Auflösung ihm bereits gegenüber steht.
Dieser Kurt Prinzhorn ist einer dieser Männer, die aufgrund der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen gerade wieder ein großes Diskussionsthema bilden. In Innsbruck macht er seiner Schriftstellerkollegin Sally plump den Hof. Er wird nie wirklich übergriffig, spart aber nicht mit zweideutigen Bemerkungen, die die Grenzen des guten Geschmacks des öfteren überschreiten. In Moskau zitiert eine Kollegin Prinzhorns berühmtes Gedicht mit dem Titel „Bibliothek“:

ich besitze von Dir
zehn Bände Deiner Stimme
die Jubiläumsausgabe Deines Körpers
die sogenannte Leipziger Ausgabe von 1998
ein paar herrliche Einbände
deiner Haut (…)

Frauen werden hier auf eine gewisse Weise verehrt, aber letztendlich mehr gesammelt als geliebt. Auch die Begegnung mit einer Geliebten in Madrid verläuft routiniert und seltsam distanziert. Entsprechend bezeichnend für seinen Umgang mit Frauen ist die Ratlosigkeit, mit der Prinzhorn den Spuren der mysteriösen Verfolgung gegenüber steht – und selbst noch der Auflösung am Schluss.
Es ist nicht ganz so leicht, mit Gerhard Falkners Hauptfigur warm zu werden. Dass man sich trotzdem für ihn interessiert, ist Falkners brillantem Stil und seiner gewieften Erzählstruktur zu verdanken. „Romeo oder Julia“ strotzt nur so vor Bildern, Metaphern und Anspielungen, verliert sich aber nie zu sehr darin und bleibt stilistisch erstaunlich kompakt. Auf allen Stationen von Prinzhorns Reise schafft Falkner es, eine eigenartige, starke Atmosphäre zu kreieren. Vor allem das Moskauer Kapitel sticht hier mit seinen Beschreibungen des absurd großen Hotels mit seinen vielen Bars und den darin geführten Gesprächen heraus. Wer einen klassischen Krimiplot erwartet, dürfte vom teilweise etwas gemächlichen Erzähltempo überrascht werden, auch von der Detailfreude, mit der Gerhard Falkner erzählt. Sie ist aber der perfekte Spiegel seines Hauptcharakters, der sich stundenlang mit der Beobachtung von Details aufhalten kann und darüber den Blick für das Große Ganze verliert.
Der Idee für „Romeo oder Julia“ liegen die Vorfälle im Innsbrucker Hotelzimmer zugrunde, die, wie Falkner im Nachwort erzählt, ihm genau so widerfahren sind. Daraus entspinnt er ein fiktives, wirklich seltsames Lesevergnügen, durch das man streckenweise ähnlich ratlos irrt wie Kurt Prinzhorn durch die Flure des Moskauer Hotels, sich dabei aber stets bestens unterhalten fühlt.

Info: Gerhard Falkner zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Dichtern. „Romeo oder Julia“ wurde, wie bereits Falkners Roman „Apollokapypse“, für den Deutschen Buchpreis nominiert. Er ist im Berlin Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden.

Gelesen von: Gabi Rudolph

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