Gelesen: Feridun Zaimoglu „Evangelio“

Man staunt ganz schön, wenn man sich in die ersten Kapitel des Luther Romans „Evangelio“ von Feridun Zaimoglu hinein begibt. In seinem neuen Roman beschreibt der deutsche Schriftsteller türkischer Herkunft, der unter anderem 2016 mit dem Berliner Literaturpreis ausgezeichnet wurde, kurz gesagt die nur zehnwöchige Zeit, in der Martin Luther in seinem Gewahrsam hinter den Mauern der Wartburg um 1521 herum das Neue Testament ins Deutsche übersetzte und es damit dem breiten Volk zugänglich machte. Das Ganze aus der Sicht des ihm zur Seite gestellten Bewachers, der fiktiven Figur eines einfachen Landsknechts. Ein literarischer Beitrag zum 500. Jahrestag der Reformation.
Das, was einen hierbei so staunen lässt, ist die zwar mittelalterliche aber trotzdem höchst lebendig umgesetzte Sprache, der sich Zaimoglu bedient. Hier ist jemand offensichtlich ganz tief eingestiegen in eine Zeit und ihr Idiom. Sein Landsknecht fuhrwerkt derart derb und hartgesotten durch die Seiten, dass man wirklich meint, den Geruch der Wartburg in die Nase zu kriegen. Und nicht nur das, diese Sprache kann mehr, man kriegt eine Ahnung vom Denken und Fühlen des Menschen im 16. Jahrhundert.
Umso größer ist dann jedoch die Enttäuschung, die sich nach einigen Seiten einstellt. Die Reise geht nicht weiter. So sehr man auch drin ist im Ambiente, die beiden Figuren des Romans, sowohl die historische als auch die fiktive, lassen einen auf die Dauer leider kalt. Es ist nicht auszumachen, wo sie sich befinden. Egal wie bildgewaltig, derb und erdig Luthers Ringen mit seinen Dämonen beschrieben wird, es ist schwer bei den beiden Hauptfiguren anzudocken. So sehr dieses großartige Sprachgemälde auch fasziniert, man prallt leider irgendwann gelangweilt ab. Was irgendwie furchtbar enttäuschend ist, weil „Evangelio“ in seinem Bemühen ein großer Versuch ist, in die Gedankenwelt eines mittelalterlichen Glaubens einzusteigen. Leider schafft er die entscheidende Brücke zum heutigen Leser nicht. Etwas, was Feridun Zaimoglu bisher mit Leichtigkeit gelungen ist – weshalb wir den Glauben an ihn auch nicht verlieren.

Info: „Evangelio“ von Feridun Zaimoglu ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Eine Leseprobe gibt es hier.

Gelesen von: Rüdiger Rudolph

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