Gelesen: „Die Juliette Society“ von Sasha Grey

Porno ist allgegenwärtig. Ich habe viele Jahre in einer Videothek gearbeitet und könnte nicht einmal ungefähr überschlagen, wie viele Hardcore DVDs ich in dieser Zeit habe über die Theke gehen sehen. Auch macht man bei einer derartigen Feldstudie schnell die Erfahrung, dass es den typischen Pornokonsumenten nicht mehr gibt. Denn Porno ist nicht nur allgegenwärtig, Porno ist mit den Jahren auch salonfähig geworden. Menschen jeder Bevölkerungsschicht und (erschreckenderweise fast) jeden Alters konsumieren Pornografie. Heutzutage braucht es dafür nicht einmal mehr den leicht verschämten Gang in die Videothek – ein Klick genügt. Bitte bestätigen Sie vor Öffnen der Seite, dass sie mindestens 18 Jahre alt sind. Haha, alles klar!
Sasha Grey ist das Paradebeispiel des modernen, selbstbestimmten Pornostars. Kaum 18 geworden, bewirbt sie sich bei den einschlägigen Studios. Porno als Karrierewunsch. Ihre Familie habe sie dabei immer unterstützt, betont sie. Sie macht sich einen Namen durch besonders harte Gangbang- und Analszenen und durch ihre Art, das Geschehen mit ihrer lauten, durchdringenden Stimme zu kommentieren. Ihr Auftreten ist betont selbstbewusst, in der Regel bestimmt sie das Geschehen. Selbst wenn sie mit mehreren Männern gleichzeitig agiert, scheint es nie wirklich zu gelingen, sie zum Sexobjekt zu degradieren – zu deutlich transportiert sie, dass sie genau das will. 2011 zieht sie sich offiziell aus dem Pornogeschäft zurück, weil sie, laut eigenen Angaben, alles erlebt hat.
Der Übergang aus der Schmuddelecke in die Öffentlichkeit verläuft fließend, vorausgesetzt, dass es so einen Übergang heutzutage überhaupt noch gibt. Noch während ihrer aktiven Zeit als Pornodarstellerin übernahm sie bereits die Hauptrolle in Steven Soderberghs „The Girlfriend Experience“. Später spielte sie sich selbst in der 7. Staffel der HBO Serie „Entourage“. Inzwischen hat Sasha Grey ihren ersten Roman geschrieben, der jetzt auch in deutscher Übersetzung erschienen ist. In „Die Juliette Society“ begibt sich eine junge Filmstudentin auf den Weg der Erkundung ihrer sexuellen Abgründe. Dieser führt sie bis in die titelgebende Geheimgesellschaft, in der Menschen von höchstem politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rang ihren düstersten Leidenschaften frönen.
Greys Protagonistin Catherine ist eine junge Frau, die keine nennenswerten Probleme mit ihrer eigenen Sexualität hat. Sie hat einen Freund, den sie liebt und mit dem sie gerne Sex hat. Nur leider ist dieser zunehmend von seiner Arbeit im Wahlbüro eines aufstrebenden Politikers eingenommen, für Sex bleibt immer weniger Zeit. Dennoch beschränken sich Catherines Abgründe auf Fantasien von Sex im Wahlkampfbüro und feuchten Schwärmereien für ihren Filmdozenten Marcus. Erst durch die Freundschaft mit ihrer Kommilitonin Anna nimmt die Fahrt in den Abgrund Tempo auf. Anna hat nicht nur eine äußerst spezielle sexuelle Beziehung zum angehimmelten Marcus, sie stellt sich auch freiwillig auf einer pornografischen Webseite mit dem klangvollen Namen SODOM zur Schau. Sie verkehrt in Undergroundsexclubs und nicht zuletzt in den Kreisen der Juliette Society. Catherine folgt ihr mit zunehmender Faszination und beginnt, ihre eigenen sexuellen Vorlieben, Einstellungen und Grenzen neu zu überdenken.
Soweit so gut. Sasha Grey schreibt über Sex und natürlich weiß sie, wovon sie spricht. Das ist erfrischend direkt, pointiert geschrieben und irgendwie auch clever. Grey, selbst bekennender Filmfreak, lässt ihre Catherine, nicht umsonst ist sie Filmstudentin, Parallelen ziehen zu großen Film Noir Klassikern. Neben der Begegnung mit Anna wird eine Vorführung des Buñuel Klassikers „Belle de Jour“ zum Schlüsselerlebnis. Und die sexuellen Vorlieben des Dozenten Marcus lassen E. L. James‘ Christian „50 Shades Of“ Grey wie einen wahren Chorknaben da stehen. Schon auf den ersten Seiten wird klar: in den expliziten Darstellungen ist Grey am stärksten. Dass sie immer eine Spur weiter geht ist unerhaltsam, unabhängig davon, ob man selbst einen Hang zu derartigen Fantasien hat oder nicht. Und das erste Drittel ihres Romans hat man das Gefühl, dass man so Catherines Weg von der „Fuck Factory“ zur „Juliette Society“ gerne noch ein Weilchen verfolgen könnte.
Aber leider verzettelt sich Grey spätestens ab der Hälfte ihrer Geschichte. Ihre sexuellen Darstellungen bleiben spannender als der Rest, wodurch sich der Pornoeffekt in Buchform einstellt – irgendwann ist man versucht, zur nächsten expliziten Stelle vorzuspulen, äh, vorzublättern. Hinzu kommt der Versuch einer konstruierten Suspense-Geschichte und der ebenfalls unentschlossene Ansatz, die Erlebnisse der Protagonistin ins traumhaft surreale zu verzerren. Dadurch misslingt die Auflösung zum Schluss leider völlig – der Enttarnung der wahren Motive der „Juliette Society“ hätte ein harter Realismus gut getan. So schockiert am Ende nichts, das Verwischen der Grenze zwischen Tag und Traum lässt den Leser völlig außen vor. Und letztendlich dann doch mit dem Gefühl zurück, dass Sasha Grey hier über ihre eigenen Ambitionen stolpert. Irgendwann ist nämlich auch der Punkt erreicht, an dem die anfangs so clever wirkenden Filmreferenzen in ihrer penetranten Fülle anfangen auf die Nerven zu gehen. Stilistisch übertrifft Grey die Werke von zum Beispiel Charlotte Roche (die sie tatsächlich als eine ihrer Inspirationsquellen nennt) mühelos, aber inhaltlich bleibt derselbe schale Geschmack zurück. Weniger wollen, mehr erzählen, wäre das Fazit, das man aus Sasha Greys literarischem Versuch ziehen könnte.

Gelesen von: Gabi Rudolph

„Die Juliette Society“ von Sasha Grey ist im Heyne Hardcore Verlag erschienen.