Die schleichende Übernahme einer Identität ist ein in Film und Literatur oft bemühtes, aber immer wieder erschreckendes, reizvolles Motiv. Jemand tritt, dir offensichtlich wohlgesinnt, in dein Leben, nimmt darin immer mehr Raum und mit der Zeit mehr und mehr deinen eigenen Platz ein. Die Vorstellung, jemand gibt sich als du selber aus und manipuliert so dich und deine Umwelt, dürfte jedermanns elementarste Sicherheitsbedürfnisse erschüttern. In den 90er Jahren lehrte Jennifer Jason Leigh als psychotisches Double von Bridget Fonda in dem Psychothriller „Weiblich, ledig, jung sucht…“ uns das Fürchten, als sie dem Liebhaber der kopierten Freundin mit Hilfe eines Stöckelschuhs den Gar aus machte. In ihrem neuen Roman „Nach einer wahren Geschichte“ lässt die französische Bestseller Autorin Delphine de Vigan ebenfalls zwei Frauen in ein ähnlich prekäres Verhältnis miteinander treten. Subtiler natürlich als der reißerische Hollywoodstreifen und mit einer gehörigen Portion Doppelbödigkeit, denn eine der beiden Frauen ist sie selbst.
Delphine de Vigan, die in Paris lebt und seit 2001 als Autorin tätig ist, erlangte 2013 in Frankreich große Berühmtheit mit ihrem autofiktionalen Roman „Das Lächeln meiner Mutter“. Zu dieser Zeit setzt „Nach einer wahren Geschichte“ an, dessen Hauptfigur Delphine de Vigan selbst ist. Der Roman hat ihr ganzes Leben verändert, neben der medialen Aufmerksamkeit, die sie erlangte, muss sie sich auch mit ihrer Familie auseinandersetzen, die mit der Veröffentlichung der vielen privaten, familiären Details, nicht ausschließlich entspannt umgeht. Und auch ihren Lesern gegenüber muss sie sich immer wieder den gleichen Fragen stellen: wieviel davon ist real? Was ist wirklich passiert, was ist Fiktion? Delphine fühlt sich dünnhäutig und unsicher, als die geheimnisvolle L. in ihr Leben tritt. L. ist eine gefragte Ghostwriterin, sie schreibt Autobiografien für berühmte Persönlichkeiten, ohne dabei als Autorin genannt zu werden. Die beiden Frauen freunden sich an, es wird schnell ein intensives Verhältnis. L. hat nicht nur alles gelesen, was Delphine geschrieben hat, sie kennt auch jedes Interview, jedes noch so kleine Detail aus Delphines Leben scheint ihr vertraut. Und nicht nur das: sie hat auch eine genaue Vorstellung davon, wie Delphines nächster Roman aussehen soll. Delphine fühlt sich zunehmend unfähig zu schreiben, denn L. akzeptiert keinen ihrer Ansätze. Delphine möchte wieder rein fiktional schreiben. L. aber glaubt, die Pflicht des Künstlers sei es, nichts zu erfinden sondern die Realität so wie sie ist abzubilden. Sie glaubt, das ist es, was Delphines Leser von ihr erwarten und das, was sie ihnen schuldet. Aus der Verunsicherung erwächst eine Depression, die es für Delphine unmöglich macht, sich in welcher Form auch immer mit dem Schreiben auseinander zu setzen. Aber zum Glück gibt es L., die geübt darin ist, anderen Leuten so authentisch wie möglich ihre eigene Stimme zu geben. Sie übernimmt das Regiment an Delphines Computer, beantwortet ihre E-Mails und steuert ihre Konversation mit der Außenwelt. Selbst als Delphine bereits spürt, dass die Situation dabei ist ihr zu entgleiten, fühlt sie sich trotzdem unfähig, die ihr eigentlich völlig fremde Frau, die immer mehr Platz in ihrem Leben einnimmt, in ihre Schranken zu verweisen.
Schon früh lässt Delphine de Vigan ihre Leser wissen, dass die Begegnung der beiden Frauen kein gutes Ende nehmen wird. Durch dieses Wissen gelingt es ihr, äußerst subtil und sukzessive Spannung aufzubauen, obwohl das Ende lange Zeit absehbar scheint. Aber der Identitätsklau ist letztendlich nicht das wahre, zumindest nicht das einzige Motiv in de Vigans Geschichte. Die Frage, was die Pflicht der Kunst ist, vorhandene Realität abzubilden oder neue Realitäten zu beschaffen, taucht auf unterschiedliche Weise immer wieder auf. Und allein der Titel macht deutlich, wie de Vigan mit der Verschmelzung von Realität und Fiktion spielt. Es ist ein faszinierendes Spiel, eine Geschichte, die mehr als einen Boden hat, während de Vigans unaufgeregte und zugleich kraftvolle Sprache noch zu ihrer Unmittelbarkeit und damit gefühlten Authentizität beiträgt. Am Ende ist „Nach einer wahren Geschichte“ eines dieser Bücher, das man bis zum Schluss kaum aus der Hand legt, ohne dass es oberflächlich spannend daher kommt, man kann kaum benennen, was genau einen daran so fesselt. Und dann, nicht im letzten Satz, nein, im letzten Wort nochmal ein Kniff! Ein kluger, vielschichtiger Roman von einer klugen, vielschichtigen Frau.
Der Kreis zum Film schließt sich übrigens auch: „Nach einer wahren Geschichte“ wird gerade von Roman Polanksi unter der Regie von Olivier Assayas, mit Eva Green und Emmanuelle Seigner in den Hauptrollen verfilmt.
Info: Delphine de Vigan gelang mit „No & ich“ (2007) der Durchbruch als Schriftstellerin. Seit dem Roman „Das Lächeln meiner Mutter“ (2010), der wochenlang die französische Bestsellerliste anführte, zählt sie zu den wichtigsten zeitgenössischen Autoren Frankreichs. Ihr Roman „Nach einer wahren Geschichte“ ist im DuMont Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden.
Gelesen von: Gabi Rudolph