Gelesen: Claire Fuller „Eine englische Ehe“

FastForward-Claire Fuller-Eine englische EheIm englischen heißt Claire Fullers zweiter Roman „Swimming Lessons“. Der deutsche Titel „Eine englische Ehe“ trifft es inhaltlich gesehen natürlich auch, ist aber plakativer und damit ein bisschen unbefriedigender. Es ist natürlich die Geschichte einer Ehe, die Claire Fuller erzählt, aber das Meer spielt die eigentlich entscheidende Rolle. Und die Fähigkeit schwimmen zu lernen, auf verschiedenen Ebenen – Lektion für Lektion hinaus in ein eigenes, selbstbestimmtes Leben.
Mitte der Siebziger Jahre ist Ingrid Studentin. Gemeinsam mit ihrer Freundin Louise hat sie große Pläne, die den in diesem Jahrzehnt mehr denn je aufkeimenden Wünschen nach Freiheit und Unabhängigkeit entsprechen. Reisen, nach Südamerika, Australien und China, Männer kennenlernen, mit der Betonung auf der Mehrzahl. Bloß keine Bindung eingehen. Ingrid und Louise sind moderne, selbstbestimmte Frauen, wissensdurstig, sexuell aktiv. Aber Ingrid schwärmt, wie es einem als Studentin gerne mal passiert, auch für ihren Literaturprofessor Gil, einen angesehenen Schriftsteller. Als er anfängt ihr Avancen zu machen, gerät das Bild von der weit offen stehenden Zukunft plötzlich ins Wanken. Denn Gil sucht keine weitere Affäre, er sieht in Ingrid seine zukünftige Frau, die Mutter seiner Kinder. Ingrid schlägt alle Vorbehalte und Warnungen (nicht nur von ihrer Freundin Louise, sondern auch von Gils bestem Freund Jonathan) in den Wind und folgt Gil in sein Haus am Meer. Sie versucht dieses Leben, als Ehefrau und Mutter, weit entfernt von der pulsierenden Metropole London und bald fern von allem, das sie früher von Bedeutung glaubte.
Diese englische Ehe ist keine glückliche. Denn letztendlich ist es nur Ingrid, die sich ändert. Gil strebt nicht danach, seine Freiheiten aufzugeben, setzt den Wunsch zu Schreiben über alles und sucht Bestätigung bei anderen Frauen. Dass er Ingrids Bedürfnisse immer hinten an gestellt hat und was für ein Fehler das war, merkt er erst, als Ingrid verschwindet und ihn mit der Verantwortung für die beiden Töchter Flora und Nan zurück lässt.
Jahre später stürzt Gil, als er glaubt in einer Frau auf der Strandpromenade Ingrid erkannt zu haben. Seine beiden Töchter kehren nach Hause zurück, um ihn zu pflegen und vor allem Flora, die immer mehr auf der Seite ihres Vaters stand, versucht zu rekonstruieren, woran die Ehe ihrer Eltern gescheitert ist. Was sie und Nan nicht wissen: alle Antworten sind direkt vor ihrer Nase, verborgen in den hunderten von Büchern, die sich im Haus am Meer stapeln, in Form von Briefen, die Ingrid in ihnen versteckt hat und in denen sie nach und nach ihr Unglück aufdeckt, bis hin zum Wunsch ihre Familie zu verlassen.
Es sind diese Briefe, in denen man Ingrid als Leser kennenlernt. Eine traurige Frau, die ihre Ziele und Pläne aufgegeben hat für eine Liebe, die sie in ihrer Unerfülltheit nie dafür entschädigen konnte. Manchmal ist es schon fast schwer, überhaupt nachzuvollziehen, was sie so lang bei der Stange gehalten hat. Von Gil wurde sie als Mutter seiner Kinder auserkoren, aber auch das Mutter sein fällt ihr schwer, bietet ihr keine rechte emotionale Erfüllung. Insgesamt ist es etwas schwer, mit den Figuren warm zu werden, sie halten sich dem Leser gegenüber eher bedeckt, auch Flora ist zwar auf der Frage nach Antworten, über ihre emotionalen Beweggründe erfährt man aber etwas wenig. Umso besser gelingt es Claire Fuller, den Geist der Siebziger lebendig werden zu lassen. Das Leben der jungen Frauen und der eher unkonventionelle Alltag im Haus des Ehepaares entfalten sich, ohne dass groß mit den Klischees der damaligen Zeit gespielt wird. Die Sehnsucht nach Freiheit, nach Wissen und Erfahrung trifft oft unvereinbar auf die nach Geborgenheit und Liebe. Ein besonders zur damaligen Zeit, in der die Konventionen noch stark aufeinander trafen, schwer zu lösendes Dilemma.
Und da ist da immer noch das Meer als Protagonist. England, vor allem die englische Küste, ist ein Sehnsuchtsort. Wie ein Spiegel des Lebens, wo das Raue auf das Zarte trifft, ungestüm und zärtlich zugleich. So erzählt „Eine englische Ehe“ keine neue Geschichte, aber diese dafür formal spannend strukturiert und atmosphärisch überzeugend dicht.

Info: Claire Fuller lebt mit ihrem Mann in Winchester, England. „Eine englische Ehe“ ist nach „Our Endless Numbered Days“ ihr zweiter Roman und der erste, der ins Deutsche übersetzt wurde. Er ist im Piper Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden. 

Gelesen von: Gabi Rudolph

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