Die 16 Jahre alte Starr wächst in einer Gegend auf, in der Schießereien und Gang-Kämpfe an der Tagesordnung sind. Bereits als Kind musste sie mit ansehen, wie ihre beste Freundin aus einem vorbeifahrenden Auto heraus erschossen wurde. Ihr Vater saß lange Zeit im Gefängnis, nach Ende seiner Haftstrafe beschließt er, seiner Familie ein besseres Leben zu bieten. Er lässt das Gang-Leben hinter sich, übernimmt einen Lebensmittelladen und setzt alles daran, ein bürgerliches Leben zu führen. Starr und ihren Bruder schickt er auf eine gute Schule in der weißen Nachbarschaft. Das Viertel verlassen möchte er nicht, weil er sich seiner Herkunft gegenüber verantwortlich fühlt. Aber schon früh gibt er seinen Kindern eine wichtige Lektion mit auf den Weg: wie man sich als schwarzer Bürger gegenüber weißen Polizisten verhält. Bewege dich nicht ruckartig. Halte Augenkontakt. Sprich nie zuerst und bleibe immer höflich.
Nach einer Party muss Starr erleben, als wie wichtig diese Lektion sich tatsächlich herausstellt. Ein weißer Polizist hält auf dem Nachhauseweg das Auto an, in dem sie und ihr bester Kindheitsfreund Khalil sitzen. Khalil wird erschossen, als er sich beim Aussteigen noch einmal zu Starr ins Auto beugt. Die Haarbürste, die in der Fahrertür liegt, hält der Polizist fälschlicherweise für eine Waffe.
Khalils Tod sorgt für Aufruhr. Das Viertel geht auf die Barrikaden. Es kommt zu Protesten und Unruhen, man fordert Gerechtigkeit für Khalil. Für die hauptsächlich weißen Kids auf Starrs Schule ist es ein Vorfall wie so viele andere. Man wird doch nicht einfach so erschossen. Und soll der Typ nicht ein Drogendealer gewesen sein? Vor Starr tun sich Myriaden von Problemen auf. Nicht nur dass sie zum zweiten mal einen engen Freund vor ihren Augen sterben sehen musste. Sie spürt stärker denn je, dass sie sich zwischen schwer zu vereinbaren Welten bewegt. Zum Beispiel gibt es da ihre weißen Freundinnen, zu denen sie auch gehören möchte, denen sie sich aber nicht anvertraut, weil sie ihnen von vorne herein abspricht, sie verstehen zu können. Ebenso ihr weißer Freund Chris – den traut sie sich noch nicht einmal ihrem Vater vorzustellen. Ihre beste schwarze Freundin findet es wiederum gar nicht cool, dass Starr überhaupt mit diesen weißen Kids abhängt. Das was Starr in jener Nacht erlebt hat, scheint Lichtjahre vom Alltag ihres schulischen Umfelds entfernt.
Dann sieht es nach der ersten polizeilichen Vernehmung nicht so aus, als würde der Polizist für sein Fehlverhalten angeklagt werden. Starr weiß, dass eigentlich sie diejenige ist, die weiß was in jener Nacht wirklich passiert ist und die die Möglichkeit hat, ihre Stimme zu erheben. Sie hat Angst. Es hängt zu viel daran, das ihre kleine, persönliche Welt zum Einstürzen bringen könnte. Aber kann sie es sich erlauben, ihr persönliches Seelenheil über derart wichtige Dinge zu stellen?
Die amerikanische Autorin Angie Thomas packt mit ihrem Debütroman „The Hate U Give“ wichtige Themen an. Sie prangert die viel zu oft unmotivierte Polizeigewalt gegenüber schwarzen US-Bürgern an, sie schreibt über Angst, über Mut, über das Problem der Identifikation von Jugendlichen mit sich, der Familie und dem persönlichem Umfeld. „The Hate U Give“ ist ohne Zweifel ein wichtiges Buch. Allerdings überzeugt es insgesamt mehr durch seine politische Message als durch deren Umsetzung. Angie Thomas schreibt lebendig, den Slang ihrer Protagonisten hat sie gut drauf, auch leidet er zum Glück nicht allzu sehr unter der deutschen Übersetzung. Das größte Problem von „The Hate U Give“ ist leider, dass viele Nebenfiguren zu blass oder einseitig geraten. So zum Beispiel Starrs Freund Chris, dem offensichtlich die eindimensionale Paraderolle des verständnisvollen Weißen zuteil werden soll. Seine Liebe zu Starr ist stets rein und selbstlos, sein Verständnis nahezu unerschöpflich. Dabei kann diese Starr, mal ganz losgelöst von all ihren Problemen, eine ganz schöne Nervensäge sein. Das ist auch in Ordnung, nur weil sie die Figur ist, an deren Entwicklung wir am meisten Teil haben, muss sie noch lange nicht alles richtig machen. Im Gegenteil, eine derartige Charakterschärfe hätte manch anderer Figur ebenso gut getan. Und wenn man etwas mehr über den schuldigen Polizisten erfahren hätte, wenn man ihm so viel Leben eingehaucht hätte, dass er selbst stärker Teil der Geschichte wird, dann hätte „The Hate U Give“ noch um einiges schmerzhafter, stärker und brisanter werden können.
Nichtsdestotrotz sollte Angie Thomas’ Roman auf der To-Read-Liste eines jeden Jugendlichen stehen. Er ist auf jeden Fall horizonterweiternde Tellerrandliteratur. Über seine Schwächen kann man dann ja gemeinsam diskutieren, und auch daraus noch eine Menge lernen.
Info: Angie Thomas wuchs auf und lebt in Jackson, Mississippi. Als Teenager machte sie als Rapperin auf sich aufmerksam, heute hat sie einen Bachelor-Abschluss in kreatives Schreiben an der Belhaven Universität. Ihr Debütroman „The Hate U Give“ ist im cbt Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Eine Leseprobe gibt es hier.
Gelesen von: Gabi Rudolph