Die BBC. Bekannt, oder? Die BBC also hat das neue Album von Arcarde Fire bereits besprochen und folgenden sinngemäß übersetzten Satz fallen lassen: „Das dritte Album dieser Ausnahmeband ist das ‚OK Computer‘ der Band, und es ist besser!“ Tja. Es tut mir leid, wenn ich da mal böse werden muss, aber das ist ein Frechheit, die ihresgleichen sucht. Radioheads geniales Meisterwerk „OK Computer“ ist ein Opus. Radiohead ist keine Band. Radiohead ist Schmerz und Verzweiflung, Trauer und Euphorie, Kunst und ihre Beseitigung, Krankheit und Heilung zugleich! Arcade Fire ist eine sehr, sehr gute Indie Band aus Kanada! Alles klar, BBC? Pfff…
So nun aber zum neuen Werk des personell aufgestockten Ehepaares Butler/Chassagne aus dem sympathischen Land nördlich von Obamas Gesundheitsreform: „The Suburbs“ von Arcade Fire. So verwerflich ich den Vergleich mit Radiohead auch finde, so klar wird nach einem Blick in die Matrix auch, wie viele Indiejünger dem Erscheinen des neuen Longplayers entgegengefiebert haben und sich vermutlich heute brav und mit leicht hängenden Schultern in ihrem Lieblingsparka in die Schlange einreihen werden, die sich vor den Plattenläden bilden wird, um das neue Album möglichst bald in den Händen zu halten. Und es ist tatsächlich nachvollziehbar, denn die neue Platte ist ohne wenn und aber eine kleine Wucht!
Hinzu kommt, dass es sich die Band nicht hat nehmen lassen, den Release mit einigen Ideen noch zu verschönern. Angefangen von 8 verschiedenen Covern, die man sich vorab im Internet aussuchen kann, einer LP Version natürlich bis hin zu der Ankündigung, ihr Konzert im Madison Square Garden Anfang Oktober live auf Youtube streamen zu lassen. Für lau, wohlgemerkt!
Nach so viel Liebe zum Detail nun also zu den neuen Songs im Einzelnen:
Wir steigen ein mit dem Titelsong „The Suburbs“, in dem schon alles steckt, was man an dieser Band mögen kann. Wunderschöne Melodieführung mit schmacken Rythmen und Landschaften von ausgesucht schönen Instrumentierungen. Dazu der Gesang des Ehepaares Win Butler und Régine Chassagne.
„Ready to Start“ legt eine Schippe Rock drauf . Straight, kompromisslos, mit treibendem Beat und rotziger Gitarre. Wie bei vielen Songs begeleitet ein Piano wie ein verwehter Kommentar die Soundflächen. Und diese steigern sich unaufhaltsam zum Crescendo von Gitarren, ohne wirklich Refrain und Strophe aufzuweisen. Weiter geht’s mit „Modern Man“. Eine Midtemponummer mit minimalistischen Zutaten. Schlagzeug, Gitarre, Bass, Gesang. Rund und einfach.
„Rococo“ ist da schon vielschichtiger. Beginnend mit staccatohafter akustischer Gitarre und einem seltsam gedehntem Keyboard kommen immer mehr Instrumente dazu und fiepen, orgeln und streichen einem imaginärem Höhepunkt entgegen, an dem dann auch die breite, verzerrte Gitarre einsetzt. Vom Gesang nah an den Songs des ersten Albums. Naiv und kindlich, manchmal bedrohlich, doch nie gefährlich.
Der nächste Song beginnt mit einem flirrenden Keyboard, das an The Who`s Flippersoundtrack erinnert. Sehr schnell und dynamisch. Dazu der Gesang von Regine, der später vom Gatten unterstützt wird. Auch hier ohne erkennbaren Refrain. Wie ein klasischer Rocksong der 80er beginnt „City With No Children“. Bruce Springsteen könnte es dem singenden Paar geschrieben haben. Und tatsächlich teilten sich Arcarde Fire und der Boss bereits eine Bühne und schätzen sich sehr. Amerikanisch, erdig und gut.
„Half Light“ ist ein Doppelsong. Wunderschön perlend mit Geigen und verhaltenen Gitarren in Teil I, bedrohlich stampfend, ja fast schon mit Discobeat versehen im zweiten Teil „Half Light II“. Fast schon als Grundzutat zeigt sich der Einsatz einer rhythmischen E-Gitarre, die schnelle Riffs durch die Songs jagt und einer zweiten Gitarre, die lang gezogen die Melodien unterstützt. Das ist nun wahrlich nicht neu, aber hier extrem auf den Punkt gebracht.
„Suburban War“ klingt erstmal gar nicht nach kriegsähnlichen Zuständen. Eher wie ein leicht melancholischer Abgesang auf die Problemlosigkeit der Vorstadtexistenzen unsere Welt. Doch mitten im Song kippt die Stimmung wie ein musikalisches Versprechen, eben doch mit allem weiter zu machen, komme da was wolle. Mit vertrakten Melodien schmeißen Arcarde Fire da um sich und treffen damit fast jederzeit.
Mit extremen Druck nach Vorne beginnt „Month Of May“. Waschechter Rock `n Roll würde man wohl sagen. Iggy Pop würde es gefallen. Nah am Punk und trotzdem melancholisch. Erstaunlich. Viel behaglicher rutschen wir in „Wasted House“. Zurückgelegt und an Nick Hornby-Verfilmungen erinnernd, wiegt sich der Song dahin. Mal schunkelnd, mal ganz still und nur gesungen. Sehr schön.
„Deep Blue“ ist ein lupenreiner Indiehit. Schräge Riffs und trippelnde Pianopassagen begleiten den auch hier wieder von Suburbs handelnden Gesang. Dabei nie überladen oder überambitioniert. Die irgendwann einsetzende zweite Gitarre klingt dann schon so schmerzlich an die Helden unsere Jugend wie The Smiths oder Pulp erinnernd, dass man sich den ganzen Film, dessen Abspann dieser Song bilden könnte, vorstellen kann. Wunderschön.
Nur ein Klavier, ein Schlagzeug und Gesang lassen „We Used To Wait“ beginnen, dazu kommen Schicht für Schicht Gitarren und lassen den Track langsam anschwellen, kehren aber dann doch zurück zur Bescheidenheit des Anfangs, um gleich darauf wieder anzusetzen sich nach oben zu schrauben. Bis hin zu ausladenden Landschaften aus mehrstimmigem Gesang.
Erstaunlich viel Musik kriegen wir von Arcade Fire für unser Geld und so sind wir mit „Sprawl“ noch lange nicht am Ende, allerdings beim traurigsten Song des Albums. Fast schon dem Chanson verpflichtet, erzählt er betrübt und alleingelassen seine Geschichte. Geigen und lang gezogene Gitarren weinen mit sehr fatalistischem Gesang zu einem plötzlichen Ende. Die hohe klare Stimme von Regine, im Stile der Endsiebziger Eurodisco gesungen, lässt uns wieder fröhlicher werden. „Sprawl II“ stellt fast schon den Gegenentwurf zum Namenspartner her. Poppig,fast schon kitschig und eben sehr tanzbar. Als hätten Abba mal die richtigen Drogen genommen.
„The Suburbs (continued)“ beschliesst das Album dann und spannt den Bogen zum Beginn der Reise. Ein verabschiedendes Winken entlässt uns aus diesem großen Album und hinterlässt den Wunsch, es gleich nochmal zu hören. So soll es sein.
Also werte Leserschaft, kauft euch dieses kleine Meisterwerk und genießt eine der innovativsten Bands der Jetztzeit, die mit genug Seelenschmerz und gleichzeitiger Ironie den nächsten Herbst vertont haben. Und da ich ja immer wieder gerne auf einen meiner Lieblingsfilme des vergangenen Jahres hinweise, schaut euch doch danach noch „Wo die wilden Kerle wohnen“ auf der jüngst erschienen DVD an und lauscht dem grandiosen „Wake up“ der ersten Platte von Arcarde Fire, das dort zu hören ist.
Aber ihr macht das schon…
„The Suburbs“ von Arcade Fire erscheint am 30. Juli auf City Slang als LP, CD und Download.
Gehört von: Marcus Reinhardt