Denjenigen, die die erste Arcade Fire Single, der Titeltrack „Reflektor“, verstört, verunsichert, Gott bewahre, eventuell sogar enttäuscht haben mag, denen sei vorab gesagt: alles ist gut. Die Welt von Arcade Fire ist gewiss nicht stehen geblieben. Sie hat sich weiter gedreht, und das nicht zu knapp. Aber sie ist immer noch mehr als in Ordnung.
„Reflektor“ ist nach wie vor ein Arcade Fire Album. Vielleicht sogar, ok, ich hau es jetzt raus, das beste, das die Band je veröffentlicht hat. Habe ich das nicht schon bei „The Suburbs“ gesagt? Wieviel Luft ist da noch nach oben? Mich wundert inzwischen nichts mehr. Und ja, auch ich war ein wenig besorgt, wie ich ihn finden würde, den „neuen“ Arcade Fire Sound. Schließlich waren Arcade Fire für mich schon immer die einzige Band, die Akkordeon, Trommeln und Geigen einsetzen durfte, ohne, dass es mir zu ökig wurde. Vieles davon musste auf „Reflektor“ tatsächlich weichen. Schließlich hat James Murphy beim vierten Album Hand angelegt, das hinterlässt natürlich seine Spuren. Der Kopf des LCD Soundsystem produzierte unter anderem die Gorillaz und die Yeah Yeah Yeahs und viele andere Musik, die man eher in den Clubs vermutet.
Das zwitschert und knarzt. Der Bass wummert im Titelsong gewaltig und bleibt auch im ruhigeren „We Exist“ präsent. Aber da sind sie doch, die Geigen! Das eine schließt das andere offensichtlich nicht aus. Und so schwurbelt „We Exist“ sich, in guter alter Arcade Fire Manier, nach anfänglicher Zurückhaltung einem ersten Höhepunkt entgegen. Pure Glückseligkeit. Arcade Fire wären aber nicht Arcade Fire, wenn man nicht mit plötzlichen Brüchen, Stil- und Tempiwechseln immer wieder aus seiner Comfort Zone heraus gelockt würde. Aber auch nur, um sofort in der nächsten zu versinken. Plötzlich sind wir in Südamerika. „Here Comes The Night Time“. Das irre Tempo, mit dem man in den Song hinein geworfen wird, bringt mich fast zum lachen. Dann ist sie wieder da, diese neue Coolness. „Laid back“ sozusagen, passend zu den weißen Anzügen, in denen die Band in letzter Zeit gerne in der Öffentlichkeit auftritt. Und mittendrin wieder Tempo. Dazu scheppert ein Klavier, das sich anhört wie aus dem nächstbesten Saloon geklaut. „Joan Of Arc“ wird eröffnet von einem mehrsekündiges Hardcore Punk Intro. Wer schreibt denn sowas?! Ach ja, genau, Arcade Fire.
Ein Gedanke tut sich auf: Der Sound ist nicht nur anders, weil Synthis und Elektronika oftmals Gitarren und Geigen ersetzen. Das Ganze hat ein Augenzwinkern, Leichtigkeit, ja, sprechen wir es aus: Humor! Vor zwei Jahren traf ich Régine, Win und Will bei einer Pressekonferenz zum Kurzfilm „The Suburbs“ und war regelrecht überrascht, wie gutlaunig und geduldig vor allem die beiden Brüder selbst die dümmsten Fragen beantworteten und zwischendrin miteinander Witzchen rissen. Erstaunlich, schließlich hörten Arcade Fire sich bis dato doch eher an, als würden sie die Last der Welt auf den Schultern tragen. Die erste der beiden CDs von „Reflektor“ klingt ein wenig so, als würde man, charmant und zugleich mit diebischer Freude, mit den hoch gesteckten Erwartungen der Hörerschaft spielen. „Normal Person“ kommt zu Anfang fast wie ein Bruce Springsteen Song daher. Dazu singt Win: „Is anything as strange as a normal person?“ Irgendwann mittendrin kommen die Rolling Stones rein und schütteln Hände. Ich kann mir nicht helfen, ich finde das urkomisch. „Irre“ ist auch so ein Wort, das mir immer wieder im Kopf herum spukt, und zwar im wörtlichen Sinne. Der erste Teil von „Reflektor“ klingt, als würde ein Entertainer mit multipler Persönlichkeit in einem obskuren Nachtclub versuchen, eine One-Man-Show auf die Bühne zu bringen. Wie auch immer man sich das vorstellen mag.
„Here Comes The Night Time II“ entführt uns dann in Teil zwei. Und wer glaubt, nach Teil eins die Hälfte gut überstanden zu haben, der kriegt ab sofort die volle Breitseite. Denn plötzlich ist es verschwunden, das Augenzwinkern, die Verschmitztheit. Hier ist sie wieder, die Ernsthaftigkeit, das Zögern und Zaudern mit dem Leben, wie es so typisch ist für Arcade Fire. „Awful Sound (Oh Eurydice)“ kommt erst etwas sperrig daher, aber plötzlich ist da diese Wendung und alles ist anders. So ist es mit diesem Album, nichts ist stringent, nichts gehorcht den gängigen Hörgewohnheiten. Hat man einmal geglaubt zu wissen wohin der Hase läuft, hoppelt er zackdiwupp in die andere Richtung. Mit der Verletzlichkeit kommt die pure Schönheit. Soundschichten legen sich übereinander wie Decken, in die man sich hemmungslos hineinwühlen möchte und Win Butlers Stimme ist das Kissen. Zack, ein harter Cut, alles wieder vorbei. Langsam wird es fast schon unangenehm – wo soll man denn bitte hin mit dieser ganzen Emotion, die hier sukzessive aufgebaut wird? Es geht schließlich gnadenlos weiter. „It’s Never Over (Hey Orpheus)“. Was für eine Wucht! Der Beat rumst. Und sind das etwa Bläser? „Seems like a big deal now but you will get over“ singt Win. Aber nein, keine Erlösung. „It’s never over.“ Und noch schlimmer! „It’s over too soon.“ Wins und Régines Stimmen verschmelzen zu einer Einheit. Oh Orpheus? Oh Eurydice? Oh Win! Oh Régine! Was macht ihr mit uns!
Erst „Afterlife“ bringt ein wenig Befreiung. Da will man nur noch tanzen. „Can we work it out?“ Ja, wir schaffen das! Wenn du es sagst, Win. Und wieder diese Bläser. „Is this the afterlife?“ Gut möglich, denn von dieser Welt scheint diese Band nicht zu sein. Bei „Supersymmetry“ hebe ich ab. „If telling the truth is not polite then I guess we have to fight“ heißt es hier. Das alles zu Streichern und einer Melodie von regelrecht erhabener Schönheit. Wer will was von mir? Ruft nächste Woche noch mal an.
Am Ende fiepst und zwitschert es minutenlang nur noch. Aber auch das nimmt man dankbar an, solang es nur nicht zu Ende ist. Zurück bleibt das Gefühl, dass das Soundgewand, in das Arcade Fire sich kleiden, letztendlich fast egal ist. Es scheint, als könne die Band alles nutzen, Elektronika, Gitarren und Streicher gleichermaßen und damit einen Punkt in unseren Herzen erreichen, der anderen Bands schlichtweg verschlossen bleibt. Seid ihr bereit für „Reflektor“?
Erholt sich langsam: Gabi Rudolph
VÖ: 25.10.2013