Meine erste Begegnung mit Travis Frontmann Fran Healy war ein bisschen verrückt. Es war 2010, er war damals auf Tour mit seinem Soloalbum „Wreckorder“ und wollte alles möglichst klein und intim halten – so klein und intim, dass ich erst einmal gucken musste wie ich überhaupt in den Club rein komme und dann eine Weile gebraucht habe um ihn zu finden, weil er noch nicht einmal einen Tourmanager dabei hatte und niemand mir sagen konnte, wo er steckt. Als wir uns schließlich gefunden hatten, saßen wir direkt neben einem Kühlschrank und unterhielten uns hauptsächlich über mögliche Schulen in Berlin für unsere gleichaltrigen Kinder.
Zehn Jahre später stehen Travis kurz vor der Veröffentlichung ihres neunten Studioalbums, das schlicht „10 Songs“ heißt. Fran Healy lebt nicht mehr in Berlin, sondern hat die letzten Jahre mit seiner Familie in Los Angeles verbracht, wo sein Sohn Clay zur Schule geht (ja, wir werden auch diesmal wieder über Schulen reden). Jetzt, da durch Corona seine Schule immer noch digital unterrichtet, haben die beiden die Gelegenheit genutzt, um einen Vater-Sohn-Trip nach Glasgow zu unternehmen. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs befinden sie sich noch in Quarantäne und während wir uns über Skype unterhalten, muss Fran zwischendurch seinen an Jetlag leidenden Sohn rechtzeitig für seine Online-Klasse wecken. Das seltsame Leben während einer Pandemie. Trotzdem fühlt sich unsere Unterhaltung so an, als würden wir direkt dort weitermachen, wo wir vor zehn Jahren aufgehört haben.
Zehn Jahre ist es her, seitdem wir uns das letzte Mal getroffen haben! Ich fühle mich ein bisschen alt.
Es ist verrückt, Clay und ich haben uns neulich Fotos von mir aus 2008 und 2009 angesehen und ich sehe da wie ein ganz anderer Mensch aus. Ich weiß nicht, ich fühle mich nicht jünger, das bin ich einfach nicht. Aber ich fühle mich viel besser. Mein Gehirn funktioniert besser, ich bin erwachsener geworden… ich bin ein richtiger Spätzünder. Ich glaube, ich habe meine Dreißiger und Vierziger damit zugebracht, den anderen gegenüber aufzuholen, auf jede Art und Weise. Aber ich fühle mich gut. Ich fühle mich großartig. Oh mein Gott, wirklich!
Das ist so cool! Du machst ja jetzt auch schon dein halbes Leben lang Musik. Ich kann mir vorstellen, dass man ganz anders aufwächst, wenn in den frühen Zwanzigern so viel bei einem passiert.
Weißt du… das ist das andere, was ich gerade zu begreifen versuche. Hier bin ich mit unserem neunten Album. Wenn ich zurückblicke zu unserem ersten, mir ansehe was ich da gemacht habe, mir die Songs ansehe, das Gefühl, das hinter ihnen steckt… ich sehe mir meine Energie an, und da ist etwas sehr Entschlossenes in mir. Fast wie ein Laserstrahl. Alles, worauf ich diesen Laser richtige, erwacht zum Leben. Und ich glaube die letzten 14 Jahre, seitdem ich Vater bin, hat das Vatersein viel meiner Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Und dann ist Clay eines Tages zu mir gekommen und hat gesagt: Papa, ich glaube, du solltest jetzt wieder die Band machen. Es geht mir gut.
Wirklich?!
Ja! Ich meinte: wirklich? Und er: ja, alles ist gut, ich möchte, dass du dich jetzt darauf konzentrierst. Also habe ich wieder diesen neuen Fokus auf die Band, das ist schön. Gleichzeitig sehe ich viele Ähnlichkeiten zu früher. Ich fühle mich nicht so anders. Ich habe immer noch dieses… ich weiß nicht. Ich bin sehr ehrgeizig. Vielleicht ist das etwas, das nicht weg geht, wenn man einmal so ist. Also, ja. Ich würde sagen, ich bin auf jeden Fall voll dabei im Moment. Wir haben das Album fertig gestellt, dann ist Covid passiert, jetzt müssen wir sehen, wie wir damit umgehen. Ich führe Regie bei den Videos, mache alles selber, koordiniere die Zusammenarbeit… aber es ist gut! Ich glaube nicht, dass ich das vor 20 Jahren so hätte machen können. Es ist, als würde man irgendwann seinen Abschluss machen.
Das ist so schön, dass dein Sohn das gesagt hat. Kinder können so unglaublich reif sein.
Ich liebe ihn so sehr, oh mein Gott! Er ist so ein cooler Typ, einfach großartig.
Und es ist toll, dass du so positiv bleiben kannst. Ich habe gelesen, dass ihr Ende 2019 mit dem Album angefangen habt und es Anfang dieses Jahres fertig gestellt habt. Und dann ist plötzlich alles anders geworden.
Ja…
Ich meine, es gibt ja auch Vieles, weswegen du positiv sein kannst, die vielen verschiedenen Arten, auf die du kreativ bist. Aber, ich meine… ist es nicht auch wahnsinnig frustrierend, keine Shows spielen zu können…?
(sehr schnell) Nein.
Nein?
Nein, überhaupt nicht. Ich wollte keine Shows mehr spielen, ich hatte die Nase voll davon. Ich glaube langsam, dass das Universum mir einen Wünsch erfüllt hat (lacht). Ich weiß auch nicht, aber in den letzten Jahren habe ich immer wieder gesagt, dass etwas Großes passieren muss, damit die Leute endlich mal zur Ruhe kommen, dass die Welt aufhört sich zu bewegen. Etwas, das die ganze Welt betrifft. Alles ist doch komplett außer Kontrolle geraten. Am Ende unserer letzten Tour habe ich gedacht: Gott, ich möchte eine Weile nicht mehr auf Tour gehen. Ich hatte das Gefühl, ich brauche eine Pause. Ich hätte nicht gedacht, dass es ganze vier Jahre werden würden, bis wir wieder richtig auf Tour gehen würden. Und dann ist das hier passiert! Ich dachte wow, irgendwie ist das cool, auf die Art kriege ich noch ein paar extra Monate geschenkt. Und ich glaube, die Liebe wächst mit der Entfernung. Wenn ich auf die Bühne gehe, dann gebe ich alles. Ich lege mein ganzes Herz hinein. Wenn man das ständig macht, fühlt man sich irgendwann ausgebrannt. Ich glaube, ich habe mich ausgebrannt gefühlt. Jetzt habe ich wieder mehr Energie und freue mich auf das was kommt. Ich weiß nicht was kommt und ich weiß nicht, wie die Zukunft für Musik, Konzerte und Bands aussieht. Für Travis… aber weißt du, es ist auch irgendwie egal. Ich weiß, dass ich heute ein absolut goldenes Leben habe, das ziemlich scheiße angefangen hat, als ich ein kleiner Junge war. Ich habe so viel Glück gehabt. Es gibt so viele Dinge, die ich machen kann. Ich wusste noch nicht einmal, dass ich animieren kann! Und jetzt rufen die Leute mich an und fragen mich, ob ich für sie Animation machen kann. Und ich sage: nein, ich weiß nicht, ob ich das nochmal machen will (lacht). Ich weiß dass ich es kann, aber ich möchte nicht für jemand anderen den Lakai spielen. Ich mache es lieber für mich selber.
Wie bist du überhaupt darauf gekommen? Animation ist ja doch eine spezielle, sehr aufwändige Kunst.
Nun, das ist alles wegen Covid passiert. Meine Manager haben mich angerufen und gesagt: okay, wir brauchen ein Video. Also habe ich viele Leute angerufen. Alles ist in den ersten paar Wochen des Lockdowns passiert. Covid hatte einen Einfluss auf das tägliche Leben in Los Angeles, die Leute haben nicht gearbeitet, sie haben gar nichts gemacht. Ich hatte eine Idee für ein Video, aber ich hatte keine Crew, keinen Kameramann oder irgendjemanden, der es hätte machen können. Die einzige Möglichkeit war also, es zu zeichnen. Ich dachte okay, ich habe 30 Tage um das Video fertig zu kriegen, ich zeichne es einfach. Und es ist wirklich gut geworden. Ich bin ganz gut im Zeichnen, ich war auf der Kunsthochschule, wir alle aus der Band waren dort. Zusammen mit dem letzten Album habe ich einen Film gemacht, und zwischen dem letzten und diesem Album eine Dokumentation über die Band. Das hat sehr lange gedauert, ungefähr zwei Jahre. Ich weiß nicht, ich finde es einfach aufregend, all diese verschiedenen Dinge zu machen. Besonders visuelle Arbeit finde ich sehr spannend. Ich schreibe dafür überhaupt nicht gerne Songs. Den Vorgang, sich hin zu setzen und einen Song zu schreiben, habe ich noch nie wirklich gemocht, ich finde es einfach nicht kreativ. Man setzt sich hin und gräbt und gräbt und gräbt. Manchmal findet man gar nichts. Und manchmal findet man einen winzig kleinen Diamant und denkt: großartig, daraus mache ich einen Ring oder eine Kette. Aber der Prozess an sich ist pures Handwerk, einfach nur graben, graben, graben… sehr langweilig. Wenn man zu einem Song der bereits existiert visuelle Kunst machst, dann hörst du den Song, er inspiriert dich und du hast einen Ausgangspunkt. Aber wenn ich einen Song schreibe, dann fange ich bei null an. Und ich mag es wirklich nicht, bei null anzufangen. Wenn ich etwas habe das funktioniert wie ein Sprungbrett, dann bin ich viel besser.
Ich habe ja noch nie in meinem Leben einen Song geschrieben. Ich habe keine Ahnung, wie das funktionieren soll.
Du könntest es.
Haha.
Nein, du könntest es! Jeder kann es, das ist das Ding. Was ist das berühmteste Lied der Welt?
Mir fällt gerade nichts dazu ein.
(fängt an, „Happy Birthday“ zu singen). Nicht wahr? „Happy Birthday“ wurde von zwei Frauen geschrieben, die keine Songschreiberinnen waren. Sie waren Lehrerinnen und haben das Stück für ihre Klasse geschrieben. Es hieß auch ursprünglich nicht „Happy Birthday“, sondern ging so (singt): „good morning to you…“ Ich glaube, die Leute sehen das Songschreiben zu sehr als etwas Mystisches. Ich wette, als du ein kleines Mädchen warst bist du durchs Haus gehüpft und hast vor dich hin gesungen. Dann bist du älter geworden, hast mehr darüber nachgedacht, es wurde dir peinlich und irgendwann hast du damit aufgehört. Die Sache ist die: wenn du dich einen Monat lang hin setzen würdest und ich würde sagen schreib einen Song, dein Leben hängt davon ab, irgendeinen Song, egal was, egal worüber, ich weiß du könntest es. Du musst dich nur hinsetzen und es tun. Ich glaube der wirklich kreative Teil des Songschreibens macht nur fünf Prozent aus. Wenn du den Diamanten gefunden hast, wenn du tief genug gegraben hast. Der kreative Teil ist, was du daraus machst. Aber das Schwierigste ist es, den Diamanten zu finden. Das ist der Grund warum ich finde, dass es im Moment nicht besonders viel gute Musik da draußen gibt. Musik berührt mich nicht mehr so wie früher. Die Leute versuchen nicht mehr den Diamanten zu finden, es geht vor allem um die Produktion – alles nur Tricks, Rauch und Spiegel. Aber sobald der Rauch sich verzieht, ist da kein Diamant!
Und, wie fühlst du dich mit deinen zehn Songs, sind sie Diamanten?
Sie sind Diamanten!
Sehr gut, das wollte ich hören!
Sie sind es definitiv. Ich weiß dass sie es sind, weil ich seit vier Jahren mit ihnen lebe, und jeder von ihnen hat einen Puls. Wenn du einen Song schreibst und du findest etwas ganz Kleines, dann ist es wie ein Embryo. Es hat diesen winzig kleinen Puls und wenn du sechs Monate später darauf zurückkommst, ist er lauter und stärker geworden. Du entwickelst es weiter, es wird ein richtiger Herzschlag daraus und am Ende entsteht etwas, das lebensfähig ist. Ich habe jetzt diese zehn Songs und ich habe das Album einfach „10 Songs“ genannt, weil ich sehr stark das Gefühl habe, dass heutzutage nicht mehr viele Songs auf diese ganz ursprüngliche Weise geschrieben werden. Und zwar von einer Person, die am Ende eines Bettes sitzt und über ihr Leben singt. Das ist das was ich tue, das was ich immer getan habe. Ich glaube, das machen nicht mehr viele Leute so. Und wenn sie es tun, dann gibt es dafür nicht genug Platz in den Charts oder im Radio. Heutzutage ist es ein radikaler Akt, einen einfachen Song zu schreiben. Das ist es, was ich versuche zu machen. Es ist ein Statement. Diese Songs sind seit vier Jahren da und sie fühlen sich immer noch frisch an. Sie bleiben es, wenn du über deine universelle Wahrheit singst. Wenn sie voller Wahrheit sind und eine gute Melodie haben. Wie auch immer (lacht).Ich bin mit diesem Album sehr, sehr glücklich. Es liegt mir sehr am Herzen.
Weißt du, ich habe das oft gesagt in letzter Zeit, ich habe im Moment ein starkes Bedürfnis nach lauter, aggressiver Musik, Rock, Punk, all sowas. Vielleicht liegt es an der Ruhe, die die Situation uns aufzwingt, ich brauche ein Gegengewicht dazu. Entsprechend begeistert war ich, als ich „Valentine“ gehört habe! (Fran lacht). Es ist so roh und rau, ich liebe es! Aber dann habe ich das ganze Album gehört, und plötzlich war „All Fall Down“ mein absoluter Lieblingssong. Und der ist genau das Gegenteil!
Oh wow! Aber ich glaube, du reagierst auf genau das worauf ich reagiert habe, als ich den Song geschrieben habe. Es ist einfach aus mir raus gekommen. Dann nimmst du es auf, spielst es dir nochmal vor und es ist einfach… (holt tief Luft) Da ist diese Ehrlichkeit, sie übersteigt mein Fassungsvermögen. Ich weiß nicht wo das herkommt. Wenn du dich lange genug hin setzt, sprudelt es irgendwann aus dir raus. Es ist komisch… du meintest vorhin Punk und laut… ich glaube ein Song wie „All Fall Down“ ist etwas ganz Ähnliches! Selbst wenn die Dynamik und der Sound anders ist, haben beide Songs diese Direktheit. Wie wenn es ganz still ist und jemand singt von ganz nah in ein Mikrofon, das direkt in deinem Kopf ist. Es ist so gut. Danke, dass du das gesehen hast, das ist sehr nett von dir.
Danke dir, dass du uns mit so ehrlicher, von Herzen kommender Kunst versorgst. Ich kann nur für mich sprechen, aber ich brauche das.
Ich sehne mich nach Ehrlichkeit, gerade jetzt, mehr denn je. Ich muss einfach hören wie irgendjemand, meinetwegen ich selber, ehrlich ist. Wir leben in diesem seltsamen, verdammten TikTok, verfickten YouTube, verfickten Donald Trump quasi alternativen Universum, in dem alles, was gesagt wird eine verdammte Lüge ist. Und ich habe die Schnauze so voll davon. Selbst wenn ich meine Songs höre… das klingt jetzt etwas seltsam… aber sie fühlen sich wie etwas an, das außerhalb meiner selbst ist… es ist wie Medizin. Vielleicht fühlen die Leute dasselbe, wenn sie das Album hören. Ich hoffe es. Oh mein Gott! Es ist wie wenn man das Fenster öffnet und frische Luft rein lässt.
Ich versuche wirklich, den Leuten zu vertrauen, dass sie so etwas erkennen.
Ich weiß nicht… ich glaube es auch, aber heutzutage weiß man es einfach nicht. Vielleicht wird dieses Album nicht gehört. Aber es hat sein eigenes Leben und vielleicht wird es in zehn Jahren von jemandem entdeckt. Ich weiß nur dass es ehrlich ist, und dass das das ist, was wir brauchen. Ich hoffe einfach es hat Glück und die Leute hören es. Als Songwriter hast du deinen Job gemacht, wenn du die Medizin verabreicht hast.
Ich denke du musst dem vertrauen, was du geschaffen hast. Gute Dinge setzen sich durch. Es wird vielen Menschen dort draußen Hoffnung und ein gutes Gefühl schenken.
Genau. Das ist alles, was ich will. Ich glaube, heute suchen Musikkritiker zu viel danach, wie komplex etwas ist. Definiert es die Grenzen von Musik neu? Warum muss es das immer tun? Warum kann es nicht einfach ehrlich sein? Deshalb glaube ich, dass es heutzutage radikal ist, ehrlich zu sein. Niemand ist mehr ehrlich (lacht). Wer hätte gedacht, dass so etwas einfach wie Ehrlichkeit einmal so schwer zu finden sein würde. Wie auch immer, ich hoffe es auch. Es wird sein Zuhause finden und sein eigenes Ding machen.
Bleib gesund, Fran. Und pass auf dich und deine Familie auf.
Du auch. Es war schön mit dir zu reden! Hoffentlich dauert es bis zum nächsten Mal nicht wieder zehn Jahre.
Oh mein Gott, bitte nicht! Wir wären so alt!
Ich weiß! Ach weißt du, jung im Herzen. Ich weiß nicht wie es dir geht, aber ich fühle mich fitter denn je. Es ist nur eine Zahl. Du musst einfach deine Hand ausstrecken und das Leben beim Genick packen.
Foto © Ryan Johnston