Four Tet, UFO Berlin, 01.03.2025: Wieder vier (fast fünf) Stunden durchgetanzt

Wenn man nur wenige Tage vor einem Konzert eine E-Mail mit Last Minute Infos bekommt, verheißt das in der heutigen Zeit meist nichts Gutes. Im Falle von Four Tet kann sich diese hingegen so lesen: „Update: Four Tet verlängert sein Set in Berlin auf 5 Stunden. Einlass ist um 19 Uhr, Four Tet wird um 19 Uhr beginnen und bis Mitternacht spielen.“

So viel steht fest: Kieran Hebden aka Four Tet hat so richtig Bock. Vier Stunden sind bei ihm eigentlich Standard, die legte er bereits bei seinem letzten Gastspiel in Berlin im Winter 2023 aufs Parkett. In seiner Heimat UK spielt er regelmäßig sogenannte All Dayer, bei denen er, gelegentlich von Freunden und Kollegen unterstützt, den ganzen Tag bis spät in die Nacht hinter den Decks steht. Legendär sind inzwischen auch die Maßnahmen, dank derer er diese Marathon-Veranstaltungen übersteht – von der Kühltruhe bis zum chinesischem Takeaway und der obligatorischen Tüte Chips wurde Four Tet schon mit so manchem hinterm Pult gesichtet. 

An diesem Abend in Berlin steht Hebden also schon an seinem Platz, als die ersten in den spärlich beleuchteten Raum trudeln. Er müsste das nicht tun, eine Playlist würde vollkommen ausreichen um die Zeit zu überbrücken, bis der Saal einigermaßen gut gefüllt ist. Aber es sorgt für eine unvergleichliche Atmosphäre, wenn er sich die Mühe macht, im funzeligen Licht seiner Schreibtischlampe die ersten Feierwütigen mit atmosphärischen Klängen willkommen zu heißen. Bis er dann auch schon kurz nach halb acht die ersten Beats aufbaut, zu denen alle sofort und automatisch in den Knien zu wippen anfangen. 

Man muss natürlich nicht vom ersten bis zum letzten Ton eines Four Tet Sets dabei sein. Das Wunderbare an der elektronischen Musik ist schließlich dass man, wie auch im Club, egal wann man dazu kommt, sofort hinein tauchen kann. Man kann es aber tun. Nein, Moment, ich will ganz ehrlich sein: man sollte es sogar ganz dringend tun. Beim letzten Mal war ich vom Beginn des Sets an meinem Platz und habe diesen nur einmal kurz (und sehr unwillig) verlassen, um zur Toilette zu gehen. Dieses Mal schaffe ich es aufgrund des Einlassprozedere knapp 15 Minuten nach Beginn in die Halle und beziehe vorne am Pult meine bevorzugte Stellung. Eigentlich habe ich mir vorgenommen, es diesmal etwas lockerer anzugehen. Den Sound und die (wieder einmal großartige) Lichtshow im Lauf der fast fünf Stunden auch mal aus unterschiedlichen Positionen und Blickwinkeln im Raum zu erkunden. Spoiler: ich werde bis auf eine kurze Pinkelpause wieder die meiste Zeit an meinem Platz verbringen. 

Das Besondere an einem Four Tet Set, egal welcher Länge, ist, dass nichts davon je willkürlich, repetitiv, austauschbar oder auch nur halbherzig wirkt. Jeder Beat, jeder Mix und jedes darüber gelegte Sample scheint bedeutsam und mit Bedacht gewählt. Dass man irgendwann unweigerlich doch ein bisschen erschöpft ist, liegt nicht daran, dass die Musik zwischendurch monoton ist und einem langweilig wird. Im Gegenteil. Ich weiß nicht, wie lang eine Four Tet Show sein müsste, damit ich von selbst aufhören würde zu tanzen. Von daher ist es eigentlich ganz gut, dass irgendwann unweigerlich Schluss ist. Sonst müsste am Ende noch, wie im Märchen von den roten Schuhen, der Scharfrichter kommen und mir die Füße abhacken. Das will ja niemand!

Allein durch die Länge wird der Abend zu einem Mikrokosmos. Wenn man über vier Stunden an derselben Stelle tanzt, passieren um einen herum die erstaunlichsten Dinge. Nachdem meine Ohren sich nach der letzten Show etwas zu anhaltend über die Lautstärke beschwert haben, habe ich mir diesmal vernünftigen Gehörschutz besorgt – von dem ich einen nach noch nicht mal einer Stunde direkt wieder verloren habe. Ich schließe Freundschaft mit einer Gruppe feierwütiger Spanierinnen, die mir ins (zum Glück noch verstöpselte) Ohr schreien, dass sie versprechen, die Augen aufzuhalten. UND WIE GUT DIE MUSIK DOCH IST! 

Die Frau, die mir mit wehendem Haar aus Versehen direkt in die Arme tanzt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als meine Yogalehrerin. Das fühlt sich ein bisschen so an, wie wenn man als Kind seine Grundschullehrerin im Supermarkt trifft und die privat irgendwie ganz anders aussieht. Bisschen awkward, aber schön. 

Und geknutscht wird an diesem Abend! Du liebes bisschen. So viele Paare Zungen und Lippen habe ich selten unmittelbar um mich herum verschmelzen sehen. Es scheint aber gar nicht so leicht, sich derart beim Tanzen anzunähern. Bei den meisten sieht es ein bisschen ungelenk und unentschieden aus. Tanzt man weiter, bleibt man kurz stehen? Wenn man stehen bleibt, wie und wann tanzt man weiter, ohne dass der andere sich zurückgesetzt fühlt? Zum Glück habe ich diesmal meinen Mann dabei, sodass wir das einfach ausprobieren können. Es klappt dann doch ganz gut, und die Discokugel glitzert in diesem Moment besonders schön. 

Mein Mann ist es schließlich auch, der den Spanierinnen zuvor kommt und meinen Ohrstöpsel wiederfindet – mehrere Schritte von uns entfernt, zwischen Unmengen tanzender Füße. Heldenhaft! 

Tschüss, Kieran! Schön war’s wieder mit Dir.

Zu späterer Stunde verleibt sich Kieran Hebden dann noch genüßlich den Inhalt einer Tüte Chips ein, und ich kann auch diesen popkulturellen Meilensteinmoment von meiner Bucketlist haken. Dafür, dass der Abend mal wieder spektakulär war, ist sein Abschied wie immer recht bescheiden. Er freut sich sichtlich über den anhaltenden Applaus, dann packt er seine Sachen zusammen und geht. 

Ich hingegen brauche noch einen Moment, um mich von dem Ort zu verabschieden, der für die letzten knapp fünf Stunden mein Zuhause war. Und ich werde auch beim nächsten Mal wieder am Start sein, wenn Four Tet vier, fünf, sechs, drölfzig Stunden auflöst. Denn jedes seiner Sets ist einzigartig, ein musikalisches Kleinod in dieser Zeit, in der selbst Unterhaltung viel zu oft corporate und austauschbar ist. Die roten Schuhe kommen jetzt erst einmal an den Haken. Für jeden ziehe ich die nämlich nicht an.

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