Ein paar Fragen bleiben nach diesem Abend offen. Wer war zum Beispiel das betagte Pärchen, das zwanzig Minuten nach Beginn der Vorstellung seine Plätze in der ersten Reihe und schließlich mithilfe einer Platzanweiserin auch den Saal wieder verlassen hat? Was waren seine Erwartungen an die ihnen präsentierten Darbietung, und warum wurden sie nicht erfüllt? Überhaupt erschien mir die Zusammensetzung des Publikums interessant. Vor dem Einlass habe ich mich mit zwei Damen unterhalten, die keine Ahnung hatten wer Feist ist und es erstaunlich fanden, dass ich extra aus Berlin gekommen war, um sie zu sehen. Sie seien aber, wie sie mir erklärten, regelmäßige Besucherinnen des Kampnagel Sommerfestes. Auf dem Platz neben mir, ganz vorne an der kleinen, runden Bühne, saß dagegen eine junge Frau, die ihre Aufregung darüber, Feist in so einem intimen Rahmen aus unmittelbarer Nähe erleben zu dürfen, nur schwer verbergen konnte. Aber wer will schon seine Begeisterung darüber verbergen, endlich wieder Livemusik zu erleben, besonders von einer Künstlerin dieser Größenordnung?
Das größte Mysterium bleibt aber nach wie vor, warum ausgerechnet wir in Deutschland das Privileg genießen, die Weltpremiere von Feists Performance „Multitudes“ zu erleben, eine einstündige Performance, die sie während der Pandemie konzipiert hat, mit neuer, zum Großteil noch nie gehörter Musik. Ihre Heimat Kanada wird erst im Herbst in den Genuss kommen. Feist selbst setzt an diesem Abend nicht auf Erklärungen. Sie, die sonst gerne und viel auf der Bühne redet, lässt zwischen den Stücken nicht mehr als ein leises „thank you“ hören, ein Song reiht sich nahtlos an den anderen. Aber im Moment ist ja sowieso alles anders, auf der Bühne wie im Leben. 200 Plätze fasst eine Vorstellung, das Publikum sitzt auf Papphockern um das Podest herum, auf dem Feist sich die meiste Zeit befindet. Man trägt die ganze Zeit Maske, was sich dank der gut funktionierenden Lüftung nach einer kurzen Eingewöhnung problemlos aushalten lässt. Es lässt sich leicht vergessen, dass man sich auf einer Pandemie-gerechten Veranstaltung befindet, und Feists einnehmende Darbietung ist daran gewiss nicht unschuldig.
Ich nehme mir zu Anfang vor, so genau wie möglich ihren Worten zu lauschen, um auch ein Gefühl dafür zu bekommen, worum es inhaltlich geht. Immerhin befinden wir uns bei einer Performance, nicht einem reinen Konzert. Anfangs rattert im Hintergrund ein Drucker, später wird er bei einem Song den Rhythmus vorgeben. Die ersten Stücke begleitet Feist sich allein auf der Gitarre und bedient dazu eine Reihe von Effekt- und Loop-Pedalen. Als die Musiker Todd Dahlhoff und Amir Yaghmai und an den Wänden die live aufgenommene Videoinstallation hinzu kommen, öffnen sich Raum und Sound mit einer Wucht, die im Moment überrascht, im Großen und Ganzen aber nicht. Leise und epische Töne lagen bei Feist schon immer nah beieinander. Auf den Inhalt zu achten, gebe ich spätestens beim zweiten Song auf. Es ist viel leichter (und auch schöner), sich voll in die Emotion fallen zu lassen. Dass man hier mit unbekanntem Material konfrontiert wird, spielt bei der Zugänglichkeit eine unwesentliche Rolle. Aber vielleicht liegt das auch an mir – ich habe den Verdacht, Feist könnte mir aus dem Telefonbuch vorsingen, ich würde trotzdem an ihren Lippen hängen.
Als das Publikum nach der Show den Saal verlässt höre ich, wie sich darüber unterhalten wird, dass sie von ihrer körperlichen Erscheinung her ja eher unscheinbar sei. Als sie zu Anfang mit Maske den Saal betrat, habe man sie erst gar nicht erkannt. Mir geht es ja anders, ich erkenne sie sofort an ihren blonden Ponyfransen, ihre immer gleiche Frisur hat inzwischen etwas nahezu ikonisches. So auch an diesem Abend, als sie, schlicht in schwarzer Bluse, Jeans und Sandalen von der Seite herein gehuscht kommt. Und wenn man sie auf der Bühne beobachtet wird wieder einmal deutlich, wie sehr ihr ganzes Wesen, körperlich wie geistig, von Musik durchdrungen ist. Selbst die kleinste Bewegung, mit der der Fuß ein Pedal bedient oder der Mikrofonständer zur anderen Seite gerückt wird, um das Publikum möglichst von allen Seiten zu bespielen, hat eine Dringlichkeit im Ausdruck. All das und natürlich die Musik, die leise und zärtlich, dann wieder laut und dringlich ist, nimmt mich so ein, dass ich bei dieser ganzen Intensität nicht das Gefühl habe, der Abend sei zu kurz. Anderen, so zeigt sich als nach einer Stunde das Saallicht wieder hochgefahren wird, geht es nicht so, von einigen Seiten werden ungläubige, zum Teil sogar empörte Ausrufe laut. Ich kann die Enttäuschung verstehen, auch ich hätte Feist gerne noch länger zugehört. Aber ich fühle mich auch mehr als erfüllt von meiner ersten Indoor Show seit Beginn der Pandemie mit einer internationalen Künstlerin, die ich von Herzen verehre.
Eine Frage wird am Ende dann doch noch beantwortet. In ihrer Ankündigung hieß es, Feist wolle nach der langen Durststrecke, die die Pandemie für uns alle bedeutet hat, gemeinsam mit ihrem Publikum die Bühne zurück erobern. Als sie zum Schluss der Show an einem Seil zieht und den eigentlichen Zuschauerraum des Saals enthüllt wird deutlich, welche Rolle wir auf unsere Hockern eingenommen haben: wir haben uns die ganze Zeit die Bühne mit ihr geteilt, anstatt sie wie sonst aus der Ferne zu bewundern. Was für ein tröstliches, nahezu poetisches Gefühl in diesen seltsamen Zeiten.
Foto © Maximilian Probst