Dan Deacon im Interview: „Musik funktioniert am besten, wenn man sie mit vielen Menschen gemeinsam hört“

Vor ein paar Wochen habe ich Dan Deacon vor seinem Auftritt im Rahmen des CTM Festivals in Berlin zum Interview getroffen. Die Erinnerung an den Abend fühlt sich heute an wie ein Blick in eine andere Welt. Dan Deacons Shows sind besonders, weil er sein Publikum dazu auffordert, selbst etwas dazu beizutragen und dadurch Teil eines Kollektivs zu werden. Mit völlig fremden Menschen ungeübt und spontan schönste Synchrontänze aufzuführen? Dan Deacon macht es möglich. Unser Gespräch vor der Show im Keller des Heimathafen Neukölln drehte sich intensiv um die kulturelle und technologische Entwicklung von Musik und Konzerten. Besonders letztere hat in den letzten Wochen ja einen unerwarteten Plot Twist genommen. Vor diesem Hintergrund bekommt unser Gespräch noch einmal eine andere Bedeutsamkeit. In der Hoffnung, dass wir Musik bald wieder so hören können, wie laut Dan Deacon ihre Bestimmung ist – gemeinsam mit einer Gruppe von Gleichgesinnten. 

Ich erinnere mich, wie ich dich das erste Mal bei einem Festival gesehen habe. Es war nachmittags, die Sonne schien und ich war eigentlich auf dem Weg woanders hin. Dann fiel mein Blick auf diese Bühne, vor der ein Haufen Menschen wunderschön synchron getanzt haben, als hätten sie stundenlang geprobt. So etwas hatte ich noch nie gesehen! Also bin ich hin und habe einfach mitgemacht. Es war großartig. 

Ich bin froh dass du das gemacht hast!

Es ist wirklich beeindruckend, wie freudig die Leute bereit sind dir zu folgen.

Ich denke, dass sie nicht mir, sondern sich selber folgen. Ich versuche, den Fokus der Show von der Bühne ins Publikum zu verlegen. Zuerst habe ich versucht, Leute auf die Bühne zu holen. Das hat nicht funktioniert. Es ist besser, wenn es im Publikum, mit dem Publikum passiert. Dort passiert es organischer und fließender. Es entsteht diese Atmosphäre, die du gerade beschrieben hast. Die Leute denken: was zum Teufel passiert hier? Dadurch kommen sie näher und versuchen herauszufinden, was da vor sich geht. Live-Musik ist ja meistens eine passive Erfahrung. Man erlebt sie, wie Theater. Wohin gegen in einem Club bei einem DJ-Set die ganze Energie vom der Menge ausgeht. In einem Club spricht man ja auch nicht von Publikum, sondern von einer Menge. Die Leute gucken nicht die ganze Zeit den DJ an, sie sehen sich gegenseitig an und tanzen. Ich liebe beide Aspekte. Ich mag es auch, wenn man auf der Bühne etwas anguckt. Ich finde nur, es muss nicht zwingend ich selber sein (lacht). Man kann sich auch einzelne Leute aus dem Publikum ansehen. Oder die eine Hälfte des Publikums sieht der anderen Hälfte zu. Die Leute, die nicht mitmachen wollen, können denen zusehen, die es tun. Bei Sport und bei der Religion zum Beispiel, da geht es immer um ein wir. Man sagt: wir haben die Weltmeisterschaft gewonnen. Niemand geht auf ein Konzert und sagt: ich habe diese Band gesehen, wir hatten einen großartigen Bassisten. Also habe ich mich gefragt, wie ich eine Show kreieren kann, die aus vielen Individuen ein Kollektiv macht. Eine zeitlang habe ich im Publikum gespielt. Das war aber nicht so praktisch, ständig ist mein Equipment kaputt gegangen. Und als die Shows größer wurden konnte man mich zu schlecht sehen. Also habe ich wieder auf der Bühne gespielt und überlegt, wie ich dabei den Raum öffnen kann. Alles, was ich mit dem Publikum anstellen kann, versuche ich. Aber jedes Publikum ist anders, jeder hat seine eigenen Grenzen. Es ist anders von Land zu Land, von Stadt zu Stadt. Manchmal funktioniert es großartig, manchmal nicht. Ich würde sagen, neun von zehn Abenden funktioniert es. Es ist immer das Risiko dabei dass es schief geht, aber das mag ich. Mal ganz ehrlich, wie du es vorhin beschrieben hast: wenn du damals an der Bühne vorbei gekommen wärst und alle hätten nur still da gestanden, vielleicht hätte meine Musik alleine nicht deine Aufmerksamkeit erregt. Aber die Performance, die du gesehen hast und die dich neugierig gemacht hat, die kam vom Publikum. Das ist das, was ich erreichen möchte.

Ich sage jetzt mal etwas, das vielleicht hoch gegriffen klingen mag. Aber ich glaube, eine derartige Performance bewirkt auch etwas auf einem spirituellen Level. Spiritualität ist für mich stark mit Musik verknüpft. Und wenn ich mich daran zurück erinnere wie die Leute damals bei deiner Show waren, dann waren alle sehr glücklich, sehr offen und voll im Moment. 

Das freut mich sehr zu hören.

Und wenn ich einen Song höre wie „Become A Mountain“, dann bin ich mir sicher, dass du selber auch nach Spiritualität strebst. 

Definitiv. Unsere Gesellschaft ist viel weltlicher geworden. Wir sehnen uns nach heiligen Momenten. Diese Heiligkeit legen wir in die Kunst, was meiner Meinung nach ein Fehler ist. Die Heiligkeit, die ursprünglich aus religiösen Zeremonien stammt, war eigentlich ein Mittel der Unterdrückung und Klassentrennung. Im 19. Jahrhundert waren Konzerte und Theater noch etwas ganz anderes, die Leute haben Hühnerbeine gegessen, gebuht wenn ihnen etwas nicht gefallen hat und nach Zugaben geschrien. Heute sind so Popshows, Parties und Clubs. Wenn du heute in die klassische Welt blickst, dann findest du dort dieses Zeremonielle, Heilige. Manche Aspekte davon sind wirklich schön. Es lässt Leute glauben, dass sie Teil von etwas Besonderem sind. Man zieht sich schön an, um ins Theater oder die Oper zu gehen, das Mindset ist ein anderes. Ich denke aber, dass das, was du als Spiritualität empfindet mit dem sozialen Aspekt von Musik zusammen hängt. Das Gefühl, etwas gemeinsam zu erleben. Musik funktioniert am besten, wenn man sie mit vielen Menschen gemeinsam hört. Ich glaube aber dadurch, dass man versucht, den Aspekt der Heiligkeit auch in die populäre Musik mit einzubringen, dieses Gefühl von Gemeinschaft mehr und mehr verloren geht. Shows sind meistens so ausgerichtet, dass man nur noch auf das blickt, was auf der Bühne passiert. Ich denke auch oft darüber nach, wie man Musik empfunden hat, als man noch nicht in der Lage war sie aufzunehmen. Sie war wertvoll, weil sie selten war. Wenn Musik heute eines nicht mehr ist, dann selten. Man hört sie überall, egal ob man will oder nicht. Vor 150 Jahren, wenn du nicht selbst Musiker warst oder in unmittelbarer Nähe eines Musikers gelebt hast, dann hast du Musik nur zu ganz besonderen Gelegenheiten gehört. Sie hatte eine ganz andere Wichtigkeit. Darüber denke ich nach, und dann denke ich, dass ich Shows machen möchte, bei denen man sich als Teil einer Gesellschaft fühlt. Tatsächlich höre ich es öfter, dass Leute sich bei meinen Shows spirituell fühlen, und ich versuche zu erforschen, worauf sich das zurückführen lässt. Ich glaube, es ist dieses Gefühl von Gemeinsamkeit. Wenn du mit tausend Leuten da sitzt und dir eine Show ansiehst, dann fühlst du dich trotzdem immer noch als einer von tausend. 

Und denkst du auch oft darüber nach, dass es durch dieses Überangebot an Musik, das es heute gibt, auch so viel Musik gibt, die einfach nur leer und seelenlos ist? Ich tue das, und ich muss zugeben es macht mich oft wahnsinnig.

(lacht) Ich versuche, zumindest die Entwicklungen in der Musiktechnologie nicht als gut oder schlecht zu bewerten. Veränderungen in der Musik sind schon immer direkt mit revolutionären technologischen Änderungen einher gegangen. Es gab einmal eine Zeit vor Blechinstrumenten, weil man technisch noch nicht so weit war sie herzustellen. Es gab eine Zeit vor der Orgel, eine Zeit vor dem Klavier… Ich glaube heute leben wir in einer… sagen wir seltsamen Zeit der Musik. Ich habe mal gelesen, es kommen heute im Schnitt 6000 Alben am Tag raus. Jeden Tag wird im Internet mehr Musik hochgeladen als man sie in einem Menschenleben hören kann. Selbst wenn man nur zwanzig Jahre zurückblickt… als Jugendlicher habe ich Stunden damit zugebracht in Plattenläden nach Sachen zu suchen die ich mag, habe 20 Dollar ausgegeben in der Hoffnung etwas Gutes gefunden zu haben, entweder nach dem Cover oder weil ich andere Künstler auf dem Label kannte. Und manchmal war es trotzdem scheiße (lacht). Als dann Filesharing aufkam, Napster und Kazaa, da kam mir das gar nicht komisch vor. Ich dachte das macht total Sinn. Musik sollte verfügbar sein, wie eine riesige Bibliothek. Als dann die Diskussion aufkam, dass das Diebstahl ist, fand ich das seltsam. Was mich wirklich interessiert hat, habe ich mir ja trotzdem gekauft. Und ich bin zu Shows gegangen von Bands, die ich anders nie entdeckt hätte. Heute gibt es so viel Musik… ich höre ständig Musik, egal was ich mache, ob ich den Haushalt mache, Auto fahre oder verreise. Ich glaube, Musik ist heute wie ein guter Einrichtungsgegenstand. Sie macht dein Leben bequemer. Dadurch ist sie vielleicht nicht mehr so bedeutsam wie früher. Aber es ist trotzdem gut so. Ich kann es nicht kontrollieren, wie die Gesellschaft und Musik sich technisch weiterentwickeln werden. Sie sind wie zwei Gletscher, die sich langsam nebeneinander her bewegen. Und unsere Kultur wird von ihrer Bewegung definiert. Ich frage mich oft, wie Musik am Ende meines Lebens klingen mag. Wie werden Konzerte aussehen? Vor fünf Jahren haben die Leute angefangen, alles mit ihren Smartphones aufzunehmen. Heute ist das völlig normal. Wie wird es in zehn Jahren aussehen? Werden wir irgendwann VR-Heatsets tragen? Wird es noch Lautsprecher geben? Werden alle Menschen knochenverankerte Kopfhörer tragen? Ich habe keine Ahnung! Aber das ist auch aufregend. Als ich angefangen habe mit meinem Computer Musik zu machen wusste ich nicht, dass ich das irgendwann einmal live auf der Bühne machen kann. Man muss einfach mit der Evolution mitgehen, und die Rolle des Künstlers ist es, die existierenden Technologien bis an ihr äußerstes Limit auszureizen. Damit die nächste Generation von Künstlern wieder diese Grenzen überschreiten kann. Um noch einmal auf das zurückzukommen was du gesagt hast: es ist belastend, dass es so viel Musik gibt und dass so viel davon kapitalistischer Müll, kommerzielle Scheiße ist. Das ist heute unser Problem. Aber immer wenn es ein Problem gibt, gibt es da draußen auch jemanden, der an einer Lösung arbeitet. 

Ich verstehe was du meinst wenn du sagst, man muss mit der Entwicklung mitgehen. Ich selber, die ich meine halbe Jugend in Plattenläden verbracht habe, habe mich zum Beispiel lange gegen Spotify gesträubt. Es war letztendlich meine Tochter, die mich dazu überredet hat. Wodurch mir bewusst wurde, dass die Kids heutzutage Musik einfach anders entdecken als wir damals. Man kann ihnen das nicht verwehren.

Erinnerst du dich an die Collab zwischen Kanye West und Paul McCartney? Paul McCartney war damals zum ersten Mal trending auf Twitter. Und zwar weil die ganzen Kids gegooglet haben: wer ist Paul McCartney? Damals war der gesamte Katalog der Beatles noch nicht auf Pandora, iTunes und Spotify. Sie hatten keinen YouTube Kanal… natürlich konnten die Kids die Beatles nicht entdecken. Wie sollten sie auch? Ich glaube, das war so ein Moment, der Paul McCartney die Augen geöffnet hat. Innerhalb eines Monats waren die Beatles im Internet! Ich bin mir absolut sicher, dass es da einen Zusammenhang gibt. Dadurch ist mir klar geworden: was immer es an Social Media gibt, ich muss da mitmachen. Wenn es tatsächlich passieren könnte, dass die Beatles verschwinden… noch erinnern sich ältere Generationen an sie. Aber wenn jemand der heute 12 ist nicht die Möglichkeit hat sie neu zu entdecken, dann sind die Beatles in 40 Jahren verschwunden. Ist das nicht schrecklich? Wer weiß, vielleicht gab es zu Zeiten Mozarts ein noch viel größeres Genie, das sich geweigert hat, seine Musik aufzuschreiben. 

Da kommt mir ein ganz schrecklicher Gedanke. Bevor Prince gestorben ist hat er sich geweigert, seine Musik im großen Stil online zugänglich zu machen. Ein paar Tage nach seinem Tod war er auf Spotify, iTunes und co. Vielleicht wäre er schneller vergessen worden, wenn er nicht gestorben wäre und so weiter gemacht hätte? 

Das halte ich für absolut wahrscheinlich. Es gibt eine Gruppe von Dokumentarfilmern, die von Hardcore-Filmfans einmal sehr verehrt wurden. Es gibt einen Grund, warum ich mich nicht an ihren Namen erinnern kann. Sie haben sich geweigert, ihre Filme über Videoleihe oder Fernsehen einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Sie haben nur Hardcopies verkauft. Und zwar nicht VHS-Tapes für 20 Dollar an Filmfans, sondern ein Tape für tausend Dollar an eine Bibliothek oder Universität. Dadurch sind sie irgendwann im Meer des Obskuren verschwunden. Wenn du deine Kunst weg schließt und sie nur einem ausgewählten Publikum zugänglich machst, dann wird die Gesellschaft sich ohne dich weiter bewegen. Weil es so viel mehr Obst gibt, das man vom Baum pflücken kann. Ich sage nicht, dass alles riesig und populär sein muss. Aber ich glaube dass es wichtig ist, dass man seine Arbeit nach da draußen schickt. Das wiederum führt natürlich dazu, dass es diesen Ozean von Musik da draußen gibt, während man nur nach einem Glas Wasser sucht. Wie findet man es? Das ist die große Herausforderung unserer Zeit. 

Dan Deacon ist am 16. April um 19.00 Uhr live auf dem Instagram-Kanal von La Blogotheque zu sehen.

Foto © Frank Hamilton

www.dandeacon.com