Die französische Stimmkünstlerin Camille macht seit über 15 Jahren Musik. „Anderthalb Jahrzehnte, wie schrecklich das klingt!“ ruft sie aus und lacht. Wir sitzen mitten in Berlin in einem Garten, im Hintergrund plätschert ein Springbrunnen. Camille wollte gerne vor die Tür, auch wenn es ein bisschen frisch ist. Sie atmet durch. Und erzählt von ihrem Umgang mit ihrer unglaublichen Stimme, den Aufnahmen zu ihrem aktuellen Album „OUÏ“ in einem Kloster, von dem Bedürfnis nach Entschleunigung. Was sie erzählt, ergibt unglaublich viel Sinn.
Das erste Album was ich von dir gehört habe, war „Music Hole“. Das hat mich damals ziemlich weg geblasen. Ich liebe diese Verrücktheit. Und ich liebe was du mit deiner Stimme anstellst. Ich kenne nicht wirklich jemanden, der vergleichbar mit seiner Stimme arbeitet.
Manchmal frage ich mich selber, warum ich mich nicht einfach ans Klavier setze, um mich auszudrücken. Oder eine Gitarre in die Hand nehme. Das ist so viel bequemer (lacht). Mein Instrument ist nunmal meine Stimme. Man könnte das als Einschränkung ansehen, aber für mich ist meine Stimme ein offenes Tor zu endlosen Möglichkeiten. Sie ist eine Reise, die mit dem Leben endet. Mein Instrument ist ein Teil von mir, wenn ich sterbe, stirbt es auch.
Und du bist die einzige, die es bedienen kann.
Manchmal frage ich mich auch, ob das wirklich so ist oder ob es etwas anderes ist, das sich meiner bedient. Meine Stimme gehört nicht wirklich mir. Vielleicht spricht meine Seele durch sie. Meine Stimme begleitet mich an Orte, die ich noch nicht kannte. Es gibt ständig neue Welten, die man entdecken kann.
Welche Türen haben sich bei der Arbeit an deinem aktuellen Album „OUÏ“ geöffnet?
Bei diesem Album habe ich mich mehr dem klassischen Gesang zugewendet. Ich hatte nie klassischen Gesangsunterricht, habe nie klassische Stücke gesungen. Ich weiß, ich bin ein Sopran. Als Kind habe ich gerne die Arie der Königin der Nacht gesungen. Da geht die Stimme sehr hoch, es fiel mir leicht und hat Spaß gemacht. Zuerst dachte ich, lass uns für dieses Album mehrere klassische Sänger einladen und zwei Chöre bilden. Aber dann dachte ich nein, ich mache es einfach selber! Das macht doch viel mehr Spaß. Man kann eine Stimme beim aufnehmen so oft multiplizieren wie man will. Technologie! (lacht) Also bin ich mein eigener Chor geworden. Es hat viel Geduld erfordert, die verschiedenen Spuren so übereinander zu legen, dass sie im Einklang waren. Bei einem normalen Chor passiert das automatisch. Ich musste meine Stimme jedes Mal anpassen, ohne zu wissen, was als nächstes kommt. Es war harte Arbeit. Aber es war auch sehr befriedigend, sehr beruhigend. Diese Höhen… ich mache es wirklich nicht oft genug, dass ich in die Höhen gehe. Es gibt so viel Luft da oben.
Da du von den technischen Möglichkeiten sprichst. Du machst schon lange Musik, was hat sich diesbezüglich für dich am stärksten geändert?
Ich nutze die Technik, fühle mich von ihr aber völlig unabhängig. Technologie inspiriert mich nicht. Meine Inspiration kommt aus dem Leben, aus meiner Stimme, meinen Emotionen. Technologie ist ein Werkzeug, ich nutze es, will im kreativen Prozess aber so wenig wie möglich davon mitkriegen. Stimmen übereinander legen konnte man schon in den Siebzigern. Ich denke, es ist nur schneller und einfacher geworden. Ich arbeite mit sehr schnellen, effektiven Ingenieuren, die mich aus ihren Prozessen so weit wie möglich raus lassen. Ich bin kein Geek, über sowas will ich mir keine Gedanken machen. Viele gucken beim Singen gerne auf den Bildschirm, beobachten die Ausschläge und Wellen. Ich mag keine Bildschirme, sie sind wie schwarze Löcher, sie saugen deine Energie. Mich macht das immer traurig, wenn ich große, starke Männer mit eingezogenen Schultern vor ihren Rechnern sitzen sehe. Sie sehen plötzlich so klein aus! (lacht) Irgendwann in meinem Leben war ich an dem Punkt wo ich dachte, Technologie schreitet rasend schnell dahin, ich bin dafür zu langsam. Deswegen lasse ich es fallen und konzentriere mich auf andere Dinge. Singen, tanzen, schreiben. Um aber darauf zurückzukommen was sich geändert hat – heutzutage ist es leicht, ein Homestudio zu haben, mit sehr gutem Equipment, das man überall einsetzen kann, um seine Musik zu machen. Ich konnte mir ganz frei aussuchen, wo ich aufnehmen möchte. Wir hatten ein mobiles Studio, mit dem wir uns frei bewegen konnten. In der Kirche, in meiner Kammer im Kloster, in dem ich für die Aufnahmen gewohnt habe, in Paris im Studio, wo wir gemischt haben. Wir sind so etwas wie künstlerische Nomaden geworden. Ich mochte noch nie die Atmosphäre in großen Studios, wo ständig die Zeit läuft. Ich brauche viel Zeit.
Du hast es jetzt schon angesprochen, dass ihr die Aufnahmen in einem Kloster gemacht habt. In wiefern sind Räume Teil deiner Kreativität? Ich stelle mir das sehr spannend vor, wenn man einfach überall hin gehen kann. Jeder Raum löst doch wahrscheinlich etwas anderes aus.
Räume sind mir sehr wichtig. Mann kann auch mit Plugins arbeiten, die eine bestimmte räumliche Atmosphäre erzeugen. Du steckst ein Mikrofon Zuhause in deinem Wohnzimmer an und kannst darüber den Hall einer Kirche in Berlin erzeugen. Aber ich will genau diese Kirche, ich brauche sie. Man kommuniziert mit dem Ort, mit seinem Vibe. Orte sind wie Menschen, sie haben eine Seele, einen Vibe, eine Energie. Orte an denen ich mich befinde, geben mir Energie und ich gebe sie gleichermaßen zurück. Gute Orte mögen es, wenn du dort singst. Es hebt das Energielevel. Ich kann es spüren, es macht einen Ort glücklich. Ich bedanke mich gerne mit Gesang bei den Orten, an denen ich bin, dafür dass sie mich willkommen heißen.
Das ist eine sehr schöne Einstellung. Und macht irgendwie total Sinn. Erzähl mir etwas mehr von dem Kloster, an dem ihr die Aufnahmen gemacht habt.
Ich wollte auf jeden Fall aus Paris raus. In Paris spüre ich ständig eine gewisse Anspannung. Nicht wegen der Attentate, das hatte ich schon davor. In großen Städten herrscht eine andere Spannung. Verkehr, Menschen, Handys überall. Manchmal denkt man, man hätte an einem Tag viel geschafft, dabei hat man mindestens drei Stunden davon in öffentlichen Verkehrsmitteln verbracht. Man verwechselt Produktivität mit Stress. Also wollte ich unbedingt woanders hin. Ich hatte von diesem Ort gehört, der Vater meines Freundes, er ist Musiker, hat dort einmal gewohnt. Heute ist es mehr ein Ort für Autoren. Ich habe trotzdem gefragt, ob ich mich dort einmieten kann? Ok. Für sechs Monate? Ok. Für nochmal sechs Monate? Ok. Für nochmal sechs Monate?? Ok. (lacht) Am Ende wurden es fast zwei Jahre. Es ist ein wunderschöner Ort, man denkt so etwas existiert nur im Film. Alte, europäische Schätze. Wir haben versucht, ihnen Leben einzuhauchen. All diese verschiedenen Akustiken, ich liebe es. Es gibt dort eine Kirche, von der eine Wand eingefallen ist. Im Sommer ist sie den ganzen Tag voller Licht, es ist so wunderschön. Aber ich mag auch große Städte. Manche Leute trifft man nur in großen Städten. Alles vermischt sich so wunderbar. Für die Lebensqualität fühle ich mich aber auf dem Land wohler.
Du hast zwei Kinder. Hat sich durch das Mutter werden dein Gefühl gegenüber Musik geändert? Ich bin ja keine Musikerin, nur Konsumentin, aber ich erinnere mich, dass ich vor allem in meinen Schwangerschaften Musik sehr anders wahrgenommen habe.
Oh ja, absolut. Reggae ist gute Musik, wenn man schwanger ist (lacht). Sie passt zu dieser Verlangsamung. Man wird langsamer in der Schwangerschaft, Musik, die schneller als ein Herzschlag ist, stresst einen. Über 60 bpm – zu schnell! (lacht) Immer wenn ich Leute gesehen habe die so furchtbar in Eile waren, das hat mich fertig gemacht. Ich dachte die Welt ist so aggressiv. Ich brauchte eine Blase um mich herum. Eine Schwangerschaft dauert neun Monate, das hat sie schon immer. Die Zeit muss man sich nehmen. Auch musikalisch ist das eine gute Botschaft. Man muss sein eigenes Tempo finden. Als ich mit meinem ersten Kind schwanger war, habe ich „Ilo Veyou“ aufgenommen. Es ist ein sehr akustisches Album, das hat mich damals sehr angezogen. Ich weiß noch, zu der Zeit war ich auf einem Konzert von Pharrell. In einer riesigen Arena, zwei Schlagzeuger auf der Bühne. Ich musste sofort wieder raus. Es ist mir zum ersten Mal aufgefallen, wie beruhigend Musik sein kann, auf der anderen Seite aber auch wie aggressiv. Musik ist nicht nur schön. Man kann sich mit Musik verletzen. Die elektronischen Rhythmen mit denen ich arbeite, erinnern immer an den Herzschlag. Dieses Mal haben wir einen Moog Synthesizer benutzt. Sein Klang ist sehr voll, sehr lebendig und warm. Heutzutage besteht ein Trend, in der Musik immer höher und immer schneller zu werden. Es tut gut, das wieder runter zu schrauben.
Ich finde ja, der Moog ist ein Instrument, bei dem man fast vergessen kann, dass es elektronisch ist.
Du hast recht, er klingt sehr organisch. Ich denke, am wichtigsten ist folgendes: Technologie sollte nie eine Abkürzung sein. Sie kann Dinge einfacher machen. Aber sie darf den kreativen Prozess nicht weniger reich machen. Natürlich benutzt man als Künstler immer mal wieder Abkürzungen. Ich bin keine ausgebildete Musikerin, ich gehe an die Dinge ran, wie ich sie mir selber beigebracht habe. Aber um seine Message relevant zu machen, braucht es viel Arbeit. Elektronik und Technologie machen es nicht einfacher.
Camille Live:
18.09.2017 Berlin, Festsaal Kreuzberg
19.09.2017 Hamburg, Mojo Club
Interview: Gabi Rudolph
Foto: Patrick Messina