Als ich einen Tag vor Eröffnung der Berlinale am Potsdamer Platz meinen Akkreditierten-Ausweis abhole, werde ich für einen kurzen Moment tatsächlich emotional. Das Theater am Potsdamer Platz hat sich in den Berlinale-Palast verwandelt. Der Rote Teppich ist bereit, die Sicherheitsgitter aufgestellt. Man könnte fast den Eindruck bekommen, alles wäre wie immer. Die 72. Berlinale ist die sechste Berlinale in Folge, von der ich Bericht erstatte, und trotzdem fühlt es sich alles andere als selbstverständlich an, dass ich hier stehen und mich darauf freuen kann, die nächsten Tage im Kino zu verbringen.
2021 fand die Berlinale in zwei Etappen statt, ein reines Streaming-Event für akkreditierte Fachbesucher*innen Anfang März, während sich ganz Deutschland in einem zähen, gefühlt endlosen Halb-Lockdown befand und ein Sommer-Event für das Publikum in den Berliner Outdoor-Kino. Es wäre wirklich gelogen zu behaupten, die Online-Berlinale, während der ich versucht habe mit zwei Kindern im Homeschooling so viele Filme wie möglich auf meinem Laptop zu gucken, wäre ein großer Spaß gewesen. Oder dass ich, weil im Lockdown, Zuhause und in freier Zeiteinteilung, mehr Filme als sonst geschafft hätte. Im Gegenteil. Ich habe diesen einwöchigen Versuch zu verdrängen, dass der Film, den ich gerade gucke, eigentlich eine große Leinwand verdient hätte und dass ihn absurderweise gerade nur eine Handvoll akkreditierter Journalist*innen sehen können, im Nachhinein als regelrecht beklemmend in Erinnerung.
Ja, wir befinden uns immer noch mitten in der Pandemie, mit höheren täglichen Fallzahlen als je zuvor. Vor dem Hintergrund mag meine emotionale Duselei darüber, dass die Berlinale dieses Jahr tatsächlich wieder in Präsenz stattfinden kann, vielleicht niemanden interessieren. Aber ich bin der Meinung, dass die Frage, wo die Kultur in Zeiten von Corona ihren Platz hat und wie man diesen erhalten und festigen kann, einen anhaltenden Diskurs verdient. Ich stehe auch dazu, dass ich mir nicht vorstellen möchte, dauerhaft auf die Berlinale zu verzichten. Was, das darf man einfach nicht außer Acht lassen, irgendwann der Fall sein könnte, wenn Menschen nicht unermüdlich daran arbeiten würden, Schutzkonzepte zu entwerfen und umzusetzen, dank der wir Kultur erleben und uns dabei einigermaßen sicher fühlen können.
Die Bedingungen, unter denen die Berlinale dieses Jahr stattfindet, könnte man getrost als 2G+++ bezeichnen. Alle Teilnehmenden müssen einen Nachweis über den vollen Impfschutz erbringen, wer den Booster noch nicht hat, muss zusätzlich einen negativen Schnelltest vorlegen, der nicht älter als 24 Stunden alt sein darf (für Akkreditierte Journalist*innen besteht eine generelle Testpflicht, ob geboostert oder nicht) Auch am Platz herrscht in den Kinos zu jeder Zeit Maskenpflicht. Die Auslastung in den Sälen wurde zusätzlich auf 50 Prozent heruntergefahren, was einen kommerziellen Erfolg des Festivals schon einmal von vorne herein aushebelt. Der Ticketverkauf findet ausschließlich online statt, um Schlangen an den Kassen zu vermeiden. Neu ist in diesem Jahr auch, dass auch mit einer Akkreditierung vor Besuch der Pressevorführungen Tickets online gebucht werden müssen, die jeden Morgen um 7.30 Uhr für zwei Tage im Voraus freigeschaltet werden.
Als ich am Mittwoch meinen Ausweis abhole, erkundigt die Dame am Schalter sich freundlich, ob mit meinem Login am Morgen alles geklappt habe und ob ich alle Tickets bekommen hätte, die ich wollte. Zu meiner eigenen Begeisterung kann ich das mit ja beantworten. Nach kurzer Zeit in der virtuellen Warteschlange lässt die Seite sich problemlos öffnen, und da die meisten Filme aufgrund der geringeren Auslastung in mehreren Sälen parallel laufen, lassen sich immer Tickets für die gewünschten Filme buchen (sogar kurzfristig, wie sich zwei Tage später herausstellt). Zugegeben, der damit automatisch fest zugewiesene Platz nervt ein wenig. Jeder hat schließlich einen bestimmten Platz im Kino, auf dem er am liebsten sitzt – ganz vorne, ganz hinten, im Rand, an der Mitte? Was das betrifft, gibt es keine Möglichkeit zu wählen. Und dass am ersten Abend selbst in einem nur zu einem Drittel besetzen Saal darauf hingewiesen wird, dass die Platzzuweisungen verpflichtend sind, ist schlichtweg kontraproduktiv. Man hätte sich in diesem Fall mit mehr Abstand auf die leeren Reihen verteilen können. Der Vorteil auf der anderen Seite ist wiederum, dass man mit einem festen Sitzplatz ganz entspannt wenige Minuten vor Filmbeginn da sein kann.
Das ist aber auch, man muss das an dieser Stelle wirklich betonen, das einzige, worüber man bei der Organisation dieser immer noch mehr als ungewöhnlichen Berlinale meckern kann. Meckern ist bei der Berlinale ja, zumindest unter Akkreditierten, nicht erst seit der Pandemie ein Thema. Es ist ein langjährig etablierter und erstaunlich beliebter Volkssport. Weder Programm noch Organisation scheinen je die hoch gesetzten Standards erfüllen zu können. Ich fühle mich manchmal wie ein leicht zufriedenzustellender, unerfahrener Teenager, wenn ich mich mit einem leicht dümmlichen Grinsen von einem Kino zum anderen treiben lasse. Das mit der persönlichen Programmgestaltung bekomme ich von Jahr zu Jahr auch gefühlt besser hin, ich schaffe es inzwischen, möglichst viele Filme am Tag zu sehen, ohne mit heraushängender Zunge von einem Ort zum anderen zu hasten. Und mit Sicherheit tut die Freude darüber, dass es wieder eine Präsenz-Berlinale gibt, ihren Teil dazu, dass ich mich dieses Jahr besonders zen fühle – auch wenn ich schon den ein oder anderen Film gesehen habe, der mich eher ratlos zurückgelassen hat (hierzu mehr in Kürze).
Die halb leeren Kinos, in denen man sich zu später Stunde schon mal über zwei Sitze fläzen kann, sind zu allem Überfluss ehrlich gesagt ganz schön gemütlich. Man ist es ja schon gar nicht mehr gewöhnt, dass jemand völlig Fremdes direkt neben einem sitzt. Da ich weiß, dass die Berlinale mit einer Auslastung von 50 Prozent auf die Dauer nicht überleben kann, verdränge ich diesen Gedanken aber brav. Ich bin wirklich bereit dafür, mich hoffentlich im nächsten Jahr wieder mit vielen Menschen in den Berlinale Palast zu quetschen und mühsam einen Platz für meine Beine zu suchen.
Parties gibt es dieses Jahr rund um die Berlinale (offiziell) natürlich nicht. Entsprechend habe ich mir vorgenommen, ausschließlich Filme zu gucken, und zwar so viele wie möglich. Über diese werde ich euch in den nächsten Tagen natürlich berichten. Zusätzlich habe ich erstmals einen Podcast-Buddy an meiner Seite: Jens vom Film Podcast „Popcorn und Lakritz“ hat mich großartiger Weise eingeladen, mit ihm über die Filme der Berlinale zu sprechen. In unserer ersten gemeinsamen Ausgabe haben wir uns unter anderem den Eröffnungsfilm „Peter von Kant“ von François Ozon vorgenommen. Eat this! Popcorn, natürlich.
Foto © Daniel Seiffert