Von Kalifornien nach London und dann nach Hamburg, am Ende eines langen Tages voller Interviews zu seinem zehnten Soloalbums „Undefeated“ – man könnte erwarten, dass Frank Turner mürrisch und leicht zerzaust ist und knappe Antworten gibt. Aber dem ist definitiv nicht so. Stattdessen sitzt mir auf der anderen Seite des Bildschirms ein charmanter, lächelnder Frank gegenüber, der nach einem langen Tag immer noch die Energie hat, sich angeregt zu unterhalten und sich meinen Fragen zu stellen. Nach etwa 20 Minuten Gespräch kann ich bestätigen, was ich zuvor gehört hatte: Frank Turner ist einfach der netteste Typ.
Ganz zu schweigen von einem Mann, der sich nach fast 3000 Auftritten in seiner Solokarriere immer noch an die winzigen Musiklokale in meiner Heimatstadt von „damals“ erinnert, was sich wie ein angemessener Anfang anfühlt, wenn man bedenkt, dass ich nur wenige Tage vor seinem Weltrekordversuch mit ihm sprechen durte. Inzwischen hat er 15 Konzerte in England gespielt und damit die meisten Auftritte in 24 Stunden absolviert. Ich wollte unbedingt wissen, wie er auf diese Idee kam und warum es ihm wichtig war, dies jetzt zu tun.
„Alles, was ich als Kind wollte, war auf der Bühne zu stehen.“
„Ich wünschte, ich wüsste es. Und das Problem, das ich habe, ist, dass es definitiv meine Idee war. Gegen 4 Uhr morgens fange ich gerne an, nach einem Schuldigen zu suchen, aber die Antwort bin ich. Was mir daran gefällt, ist, dass es sich um unabhängige Veranstaltungsorte handelt, in Zusammenarbeit mit dem Music Venue Trust, und dass jede Show mit einem unabhängigen Plattenladen zusammenarbeitet und natürlich auch mein Album promotet, was für ein Glück! Im Prinzip geht es darum, eine Gemeinschaft aufzubauen. Aber ja, ich meine, ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wann ich diese Idee hatte, und ich bin gerade dabei, mir zu wünschen, ich hätte sie nie gehabt. Ein Freund von mir sagte zu mir: ‚Gut gemacht, du schaffst die ganze Album-Promo in 24 Stunden, das ist schlau!’“
Erst im letzten Jahr absolvierte Frank 50 Auftritte in 50 US-Bundesstaaten, und ich musste ihn einfach fragen, warum er sich nach so vielen Jahren im Business noch so großen Herausforderungen stellen will. Ist es der reine Nervenkitzel, das Beste daraus zu machen, solange er noch kann, oder hat er nach all der Zeit immer noch das Gefühl, dass er etwas beweisen muss?
„Hmm… sehr gute Frage. Nun, ich muss zunächst einmal sagen, dass vieles von dem, was ich tue, auch eine gute Möglichkeit ist, Werbung für meine Arbeit zu machen. Aber es ist auch eindeutig eine Charakterfrage, weißt du, ob du es nun eine puritanische Arbeitsmoral oder Masochismus nennen willst…. Ich bin damit aufgewachsen, Bands wie Black Flag zu vergöttern, und Black Flag zum Beispiel haben härter getourt als jeder andere. Und als Kind hatte ich ein Buch namens ‚Get in the Van‘ von Henry Rollins, sein Tourtagebuch der Black Flag-Jahre in den 1980er Jahren in Amerika, und ich erinnere mich, dass ich das gelesen habe, als wäre es eine Bibel/eine Gebrauchsanweisung. Alles, was ich als Kind wollte, war auf der Bühne zu stehen. Es hat auch etwas von einem seltsamen, protestantischen Leiden, aber vieles davon ist eine lustige Reise.“
Als er mit mir über die harte Arbeit spricht, die das Touren mit sich bringt, betont er schnell, dass seine Version von „hart arbeiten“ nicht mit der einer Krankenschwester in der Notaufnahme zu vergleichen ist – für immer der bescheidene Musiker. Es ist mir wichtig, ihn in diesem Moment zu bestätigen, denn nicht jeder kann sich so ins Zeug legen wie er, und die psychische und physische Belastung, die das Touren für Musiker mit sich bringt, ist immens. Ganz zu schweigen davon, dass Frank Auftritte absolviert, als ob es aus der Mode käme.
„Ich will das hier für den Rest meines Lebens machen, wenn ich kann, und deshalb will ich mich nicht mit 40 umbringen und so tun, als wäre ich 20“.
„Das ist es. Ja, ich meine, es ist komisch, ich bin auf Tour, seit ich 16 Jahre alt bin, nicht ganz durchgängig, aber nicht weit davon entfernt, und es gibt kein anderes ’normales Leben‘ mehr, von dem ich sozusagen Urlaub nehme. Ich weiß, wie man auf Tournee überlebt, und wir touren nicht mehr so viel wie früher. Einmal, in meinen 20ern, war ich 13 Monate lang nicht zu Hause. Ich hatte keinen festen Wohnsitz, und gut, ich war auch nicht verheiratet. Aber wir sind etwas vom Gas gegangen, was zum Teil daran liegt, dass ich älter werde und alles schneller weh tut. Ich will das hier für den Rest meines Lebens machen, wenn ich kann, und deshalb will ich mich nicht mit 40 umbringen, indem ich versuche, so zu tun, als wäre ich 20.“
Bei unserem Gespräch wird mir schnell klar, dass bei Frank Turner alles auf die Liebe zum Touren und zur Underground-Szene zurückgeht. Neben seiner Spendensammlung für unabhängige Musiklokale im Jahr 2020 wird dieser Weltrekord auch dazu dienen, diese Lokale zu unterstützen und Geld für sie zu sammeln. Ich dachte, dass diese großen Gesten ein Dankeschön an diese kleinen Veranstaltungsorte sein sollen, die ihm beim Aufstieg in seiner Karriere geholfen haben, aber es scheint ihm um viel mehr zu gehen.
„Es geht nicht nur um die Karriere, das ist mir wichtig. Es geht um Kultur. Was ich damit meine, ist, dass ich mich als kleines Kind mit Underground-Musik, alternativer Musik, Außenseiterkunst, wie auch immer man es nennen will, beschäftigt habe. Und eine Zeit lang war das alles ziemlich hypothetisch, weil ich niemanden kannte, der sich dafür interessierte. 1995 war ich bei meinem ersten Gig im The Joiners in Southampton. Ich kam rein, und da waren 180 andere Leute, die Band-T-Shirts von Bands trugen, von denen ich schon gehört hatte, und ich dachte nur : ‚Fuck, das sind meine Leute, heilige Scheiße!‘“
„Macht verdammt nochmal Tik Tok aus und geht zu einem Konzert!“
Frank Turner war vor allem Musikfan, und auch heute noch ist das sein Hobby und seine Leidenschaft, aber es lässt sich nicht leugnen, wie sehr diese unabhängigen Veranstaltungsorte und Läden ihm geholfen haben, sich als Künstler zu entwickeln.
„Wenn ich nicht auf Tour bin, gehe ich gerne zu Konzerten. Ich liebe das verdammt noch mal. Es ist die Kultur, die Gemeinschaft. Es sind auch all diese Dinge. Ich habe viele meiner Lieblingsbands dabei beobachtet, wie sie in kleinen Räumen gespielt haben, und ich habe herausgefunden, wie man in solchen Räumen Shows spielt. Ich habe herausgefunden, wie ich als Künstler und Songschreiber eine Show auf die Beine stellen kann, wie ich ein Publikum finde und all diese Dinge. Sie bedeuten mir also sehr viel… Ich denke, es ist jetzt fast noch wichtiger, da jeder die ganze Zeit online ist. Ich möchte die jüngeren Kids packen und ihnen sagen: ‚Macht verdammt noch mal Tik Tok aus und geht zu einem Konzert!‘ Es wird dich umhauen, und es dauert länger als 30 Sekunden.“
Dieses Gefühl von Nostalgie und der reinen Liebe zur Musik und ihrer Kultur, ist in „I Fell in Love with a Girl from the Record Shop“ aus seinem brandneuen Album „Undefeated“ perfekt verkörpert. Der Song wurde als Single für den World Record Store Day veröffentlicht und ich fragte mich, ob er speziell mit diesem Gedanken geschrieben wurde oder ob er sich organisch so ergeben hat.
„Nicht speziell, aber ich meine, sobald er da war, war es so: Huch, naja. Ich meine, es ist eine wahre Geschichte… Es gab einen Indie-Plattenladen in Winchester, als ich ein Kind war, und, weißt du, ich war 14 und unglaublich unbeholfen und hatte Angst vor dem anderen Geschlecht und all sowas. Und ich ging in einen Plattenladen und ein Mädchen trug ein verdammtes L-Seven-T-Shirt, und ich habe nie mit ihr geredet, weil ich ein Teenager war, Jesus, aber deshalb waren diese Räume so wichtig für mich. Aber ja, dieser Song ist lustig, und meine Frau mag übrigens weder The Descendents noch die Four Tops oder gar L-Seven.“
„Undefeated“ ist Frank Turners zehntes Studioalbum als Solokünstler, und ich will wissen, ob diese Zahl ein Gefühl der Freiheit vermittelt. Hat er heute das Gefühl, dass er tun kann, was er will, oder lastet der Druck noch immer auf ihm, ob er kurz vor der Veröffentlichung immer noch nervös ist?
„Ich denke, die Nerven und der Druck werden immer da sein, vor allem, weil es ein seltsames Ungleichgewicht in meinem Leben gibt, das darin besteht, dass ich mindestens zwei Jahre damit verbringe, 45 Minuten Musik zu schreiben und aufzunehmen, und dann gibt es Leute, die sich nur die ersten 20 Minuten anhören. Ich neige auch dazu, auf eine ziemlich exponierte Weise zu schreiben, so könnte man es ausdrücken. Und es gibt einen Song auf dem neuen Album, der heißt ‚Somewhere in Between‘, das ist einer der liebsten Songs, die ich je geschrieben habe. Aber ich habe auch eine Scheißangst davor, weil er ziemlich rohen Scheiß sagt.“
„Ich meine, es ist ein schönes Gefühl, 10 Alben zu haben, denn ab einem gewissen Punkt, wenn man so lange in einer Branche überlebt hat, in der man nur schwer überleben kann, wird man ein wenig unangreifbar. Und es gibt keine Klischees über das schwierige zehnte Album. Weißt du, es ist ein Privileg, ein zehntes zu machen. Jedes Mal, wenn ich eine Platte mache, versuche ich mich zu vergewissern, dass ich mich nicht wiederhole, und dass ich keine Platte um ihrer selbst willen mache. Ich habe keine Studiozeit gebucht, weil ich das halt so mache. Ich möchte, dass es einen guten Grund für mich gibt, einen Haufen von Songs zu schreiben, zu proben, zu arrangieren, aufzunehmen, zu mastern und dann zu promoten. Bis zu einem gewissen Grad fühlt sich mein Leben wie Wile E. Coyote an, ich fühle mich, als wäre ich Wile E. Coyote seit etwa acht Platten. Ich war froh und dankbar, ein erstes Album zu machen, aber das machen viele. Ich habe ein zweites gemacht, das war cool, und jetzt bin ich bei der verdammten Nummer 10, und ich warte irgendwie immer noch darauf, dass die Realitätspolizei an meine Tür klopft und mir sagt, dass alles ein furchtbares Missverständnis war, dass das alles für jemand anderen gedacht war. Und wenn das passiert, werde ich sagen: ‚Ja, das stimmt. Ich meine, ich lebe mein Leben mit Dankbarkeit, denn es ist ein seltenes Privileg, zu tun was ich tue.“
„Ich denke, der beste Ratschlag, den ich je bekommen habe, war: ‚Alles wird vorübergehen‘.“
Das Gefühl, das Frank mir beschreibt, entspricht quasi der Wörterbuchdefinition des Impostersyndroms. Es erscheint mir verrückt, dass jemand, der so viel erreicht hat, es nach all der Zeit immer noch nicht ganz glauben kann. Gleichzeitig ist es ziemlich unbegreiflich, dass man fast 3000 Shows in der ganzen Welt und 10 Studioalben hinter sich haben kann. Es scheint, dass „Undefeated“ perfekt beschreibt, wo er in seinem Leben und seiner Karriere steht, und zwar so sehr, dass er es sich auf den Rücken tätowieren ließ, noch bevor das Label dem Namen zustimmte.
„Ich wusste schon ziemlich früh, worum es auf dem Album ungefähr gehen würde. Ich meine, ich schreibe keine Konzeptalben, aber ich neige dazu, Songs hintereinander zu schreiben. Ich habe mir den Film ‚Wie ein wilder Stier‘ angesehen, ein früher Film von Robert De Niro, in dem es um einen Boxer namens Jake LaMotta geht, der verdammt lange geboxt hat. Das ist ein toller Film, den solltest du dir ansehen, wenn du ihn noch nicht kennst. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das Wort im Film vorkommt, aber ich habe ihn gesehen und dachte: ‚Oh, das ist es.‘ Und was ich an dem Wort ‚undefeated – ungeschlagen‘ mag, ist, dass es nicht Weltmeister bedeutet, nicht, dass man jeden schlägt. Es bedeutet, dass man von niemandem besiegt wird. Und das ist ein wichtiger Unterschied.“
Wenn man sich das Albums anhört, hat man das Gefühl, dass Turner seine Weisheit und das Gefühl, auf der anderen Seite zu stehen, teilt – ein echter Wendepunkt in seinem Leben. Da er so viele Ratschläge an seine Fans weitergibt, will ich wissen, ob er einmal einen Rat erhalten hat, der ihm hängen geblieben ist, oder der während der Entstehung des Albums zutage gekommen ist.
„Ich denke, der beste Ratschlag, den ich je bekommen habe, war: ‚Alles wird vorübergehen‘. Ich mag ihn, weil er in beide Richtungen gilt. Ich meine, er gilt für die guten und für die schlechten Zeiten. Aber im Wesentlichen geht es im Leben um Entropie. Alles geht einmal zu Ende, auch das Leben selbst. Wir sind alle nur für eine kurze Zeit hier, und aus diesem Satz kann man Trost schöpfen, man kann Kraft schöpfen, und man kann ihn als Ermutigung nehmen, die guten Zeiten zu genießen, und hoffentlich auch die Art von Trost, um die schlechten Zeiten durchzustehen.“
„Ich werde dabeibleiben, solang es geht, so gut ich kann.“
Angesichts des bevorstehenden Weltrekordversuchs und seiner bevorstehenden Tournee frage ich mich, wie er so ruhig bleiben kann. Wie findet er als jemand, der ständig unterwegs ist, die Zeit, auf dem Boden zu bleiben und keinen Gott-Komplex zu bekommen?
„Es ist schon seltsam, auf einer Bühne zu stehen, 5000 Leute schreien dich an, und dann sitzt du in einer Koje im Tourbus. Ich meine, ich mache das hier schon sehr lange. Ich hatte Glück, dass alles bei mir nicht so schnell passiert ist. Weißt du, was ich meine? Ich habe Freunde, die innerhalb von sechs Monaten enorm berühmt geworden sind, und das hat sie fertig gemacht. Bei mir hat es verdammt lange gedauert. Ich bin irgendwie dankbar dafür, weil ich in der Lage war, es mit einer Prise Salz zu nehmen, als ich dann in Arenen als Headliner aufgetreten bin. Ich bin immer noch leicht überwältigt, dass der Plan immer noch aufgeht. Ich meine, verdammt noch mal, ich kann um die Welt reisen, weil ich Gitarre spiele. Das ist doch lächerlich! Und es ist immer noch so, und es wird vielleicht nicht ewig so weiter gehen. Ich werde dabeibleiben, solang es geht, so gut ich kann.“