Es ist 2018, als Fenne Lily gerade ihr Debütalbum „On Hold“ herausgebracht hat und damit in Deutschland auf Tour ist. Wir treffen uns im Hinterhof des Privatclubs in Berlin, wo wir auf wackeligen Gartenstühlen eine Stunde in der Sonne sitzen und uns extrem angeregt unterhalten. Ich bin hinterher ganz schön angetan von der jungen Dame aus Bristol, die mit ihren 21 Jahren etwas orientierungslos, aber in vielen Dingen auch beeindruckend erwachsen wirkt. Ein paar Tage nach unserer Begegnung schaffe ich es (ich möchte hier nicht weiter ins Detail gehen) die Chipkarte in meinem Aufnahmegerät zu zerstören und damit drei bis dato ungesicherte Gesprächsaufnahmen ins Nirvana zu schicken – inklusive der mit Fenne Lily. Es ist ein Alptraum, ich fühle mich schrecklich, so viel ihrer Zeit in Anspruch genommen zu haben, für nichts am Ende. Und nehme es mir fest vor, es bei nächster Gelegenheit wieder gut zu machen.
Nun hat Fenne Lily ihr zweites Album „Breach“ veröffentlicht, mitten in einer Zeit, die für Musiker kaum schwieriger sein könnte. Deshalb sitzen wir uns bei unserem zweiten Gespräch auch nicht persönlich, sondern am anonymen Computerscreen gegenüber. Es stellt sich heraus, dass Fenne Lily sich gut an unser Gespräch von damals erinnert, und (oh Freude!) dass unsere Begegnung vielleicht doch nicht ganz umsonst war. Am Ende reden wir wieder fast eine Stunde, obwohl es auf dem Anfrageformular hieß: „20 minutes maximum, except for bigger features“. Gut, dann machen wir es eben big. Bitteschön.
Als wir uns das letzte Mal getroffen haben, hast du mir von dem Typen erzählt, der nicht mit dir ausgehen wollte, weil er Angst hat, dass du ein trauriges Liebeslied über ihn schreiben könntest.
Ja. Und dann habe ich ein trauriges Liebeslied über ihn geschrieben. Da hat er sich wohl in den Fuß geschossen.
Wie ist es dir seitdem ergangen?
Tatsächlich habe ich diese brillante Fähigkeit, große Teile meines Lebens auszublenden. Manchmal ist es positiv, manchmal nicht besonders hilfreich. Ich kann einen Film anschauen und sobald er zu Ende ist komplett vergessen haben, worum es eigentlich ging. Aber jetzt, meine unmittelbare Vergangenheit, die war ziemlich gut. Neulich kam ich nach Hause, und da war plötzlich dieses Kätzchen in meiner Wohnung – und sie ist nicht mehr gegangen! Ich habe die Fenster und die Tür aufgelassen, aber jetzt liegt sie auf meinem Bett und schläft. Ich habe Zettel aufgehängt, ob jemand in der Nachbarschaft ein Kätzchen vermisst, aber bis jetzt hat sich niemand gemeldet. Ich fühle mich ein bisschen, als hätte sie mich auserwählt. Das ist sehr schön. Obwohl ich im Zuge dieser Promokampagne viel darüber spreche, dass es okay ist, mit mir selbst alleine zu sein, dass ich meine Gedanken erkunden kann, wenn um mich herum nicht so viel los ist. Die Quarantäne war für mich eine echte Herausforderung, ich finde Einsamkeit so gar nicht inspirierend. Ich hatte Angst und habe mir Sorgen gemacht. Aber dann kam die Katze. Und ich habe zur Abwechslung einen guten Typen kennengelernt.
Yay!
Und er hat keine Angst davor, dass ich Songs über ihn schreibe. Er hat mich tatsächlich gebeten, mehr über ihn zu schreiben. Das ist also positiv. Wobei ich alles dafür geben würde, wieder in Berlin zu sein und live zu spielen. Alles! Am Ende wäre es aber vielleicht sogar mein Leben, schließlich haben wir gerade eine Pandemie. Aber ja, es geht mir gut.
Ich erinnere mich auch, dass wir viel über Einsamkeit gesprochen haben. Das Gefühl hat dir damals ganz schön zugesetzt. Als ich deinen Song „Alapathy“ gehört habe dachte ich, du hast inzwischen einen anderen Zugang dazu gefunden, versuchst dich wohler damit zu fühlen. Außerdem ist mir nicht entgangen, dass es einen Song namens „Berlin“ gibt!
Das ist wirklich lustig. Es war ganz am Ende der „On Hold“ Tour, dass wir beide uns getroffen haben. Und dann saß ich wieder im Tourbus, auf dem Weg nach Hause durch den Europatunnel, und ich bekam plötzlich Angst, dass ich nach Hause komme und doch nicht diese tolle neue Person bin, die ich während der Tour versucht habe zu werden. Jedes Mal wenn ich auf Tour bin, habe ich das Gefühl, ich führe ein gespaltenes Leben. Ich bin ein echter Tour-Fan, dann komme ich nach Hause und bin wieder ein Zu-Hause-Fan. Ich wollte plötzlich kein Zu-Hause-Fan mehr sein, also habe ich mir noch auf dem Rückweg direkt ein One-Way-Ticket nach Berlin gebucht. Ungefähr sechs Tage nachdem ich Zuhause war, bin ich wieder los geflogen. Ich glaube, unsere Unterhaltung hat zu dem Zeitpunkt etwas bei mir bewegt, sie hat mich vielleicht in dem bekräftigt, was ich gebraucht habe, um mich wohler zu fühlen, wenn ich alleine bin. Ich wusste immer dass es… ich weiß auch nicht, vielleicht schwierig ist, 24 Stunden am Tag mit mir zusammen zu sein. Als Kind hatte ich keine langen, intensiven Freundschaften. Ich habe mich immer ein bisschen anders und seltsam gefühlt. Alleine zu sein war wichtig für mich und ist es immer noch, ich kann mich dann wohl damit fühlen seltsam zu sein, und wenn jemand das mit mir teilen will, ist es quasi ein Bonus. Ich musste mich von dem Gefühl lösen, dass ich Leute dazu benötige, mir Anerkennung zu geben, wollte versuchen, sie mir selbst zu geben. Neulich habe ich ein Interview gegeben, und derjenige sagte zu mir: du liebst also die Einsamkeit. Und ich meinte: ich liebe es alleine zu sein, das ist ein Unterschied. Einsamkeit ist keine Wahl, allein zu sein sollte eine sein. Und sobald es keine Wahl ist, ist es nicht mehr so schön, man fühlt sich abgelehnt und allein gelassen. Also. Ja. „Berlin“ habe ich in Berlin geschrieben – offensichtlich. Und das war das erste Mal, dass ich einen Monat lang jeden Tag mit mir alleine verbracht habe. Es war mal so, mal so, aber insgesamt fantastisch.
Und dann passieren jetzt in dieser seltsamen Zeit auch tolle Sachen. Viele Künstler kommen auf neue Ideen, wie zum Beispiel du mit deiner Bath Time Liveshow auf Instagram. Ich liebe das!
Die Bath Time Geschichte war eine verrückte Idee. Mir ist ein bisschen zu spät aufgegangen, dass es während der Quarantäne gesund ist, sich um andere Menschen zu kümmern. Ich kann das nur aus meiner Perspektive als Musikerin sagen, aber ich bin mitten in einer Albumkampagne und versuche die Leute daran zu erinnern, dass ich existiere, ich spreche jeden Tag über mich selbst. Das kann einen wahnsinnig machen – ich lebe als ich selbst, ich rede über mich selbst, ich promote mich selbst, das kann sehr anstrengend sein. Die Bath Time Geschichte war also eine Möglichkeit, mich für den Kram von anderen zu interessieren und gleichzeitig kann es mir als Musikerin neue Perspektiven eröffnen und mir helfen, das große Ganze zu sehen. Es ist eine schwierige Zeit, um Musik raus zu bringen. Gut, es ist wahrscheinlich in jedem Job eine schwierige Zeit. Aber was ich positiv daran sehe… als zum Beispiel neulich das Taylor Swift Album raus kam. Ich hätte es mir sonst wahrscheinlich nie angehört. Und ich habe es gehasst! Dann habe ich mit einem Freund gesprochen, der meinte: verdammt nochmal, ich liebe dieses Album so sehr! Also dachte ich okay, ich höre sie mir nochmal an. Und ich habe tatsächlich Dinge gefunden, die ich daran mochte. Wenn ich diese viele Zeit nicht gehabt hätte, hätte ich mir die Platte wahrscheinlich nie angehört, geschweige denn ein zweites mal. Diese Zeit hat mich aufmerksamer gemacht und weniger abschätzig. Und ich glaube anderen geht es auch so. Wir können uns ganz anders auf Dinge einlassen, ohne das Gefühl zu haben, dass wir unsere Zeit verschwenden, weil wir eigentlich arbeiten sollten.
Ich habe aber auch großen Respekt davor, dass es eine harte Zeit ist, besonders für euch Künstler. Ich stelle es mir nicht leicht vor, ein Album raus zu bringen und es nicht auf die Weise zu pushen wie man es gewohnt ist und wie es am besten geht, nämlich indem man auf Tour geht.
Mein Album kommt in einer Zeit raus, in der ich nicht die wichtigste Person bin, um die es hier geht. Ich stimme dir schon zu, natürlich ist es blöd, dass Musiker keine Shows spielen können. Gleichzeitig denke ich, dass ich mir ein bisschen auf die Zunge beißen und mich fragen muss: bin ich die Person, die gerade im Scheinwerferlicht stehen sollte? Wahrscheinlich nicht. Aber es ist auch mein Job, im Scheinwerferlicht zu stehen, und das macht es mir schwer, nicht egoistisch zu sein (lacht), und nicht über meine eigene Karriere nachzudenken. Solange ich diesen Job mache, war das immer meine Aufgabe. Mach das beste aus jeder Situation! Spiele Shows! Rede über dein Album! Jetzt fühle ich mich plötzlich schuldig deswegen, weil größere Dinge passieren. Das zu navigieren ist tückisch.
Aber ich kann es schon verstehen. Du machst das alles nicht erst seit gestern. Es ist dein Leben! Es ist in Ordnung, wenn es dich trifft. Und es ist in Ordnung zu versuchen einen Weg zu finden, an sich selbst zu denken und gleichzeitig das große Ganze zu sehen. Ich mochte sehr, was Phoebe Bridgers dazu gesagt hat…
…ich wollte gerade darauf kommen!
Sie hat sich geweigert, ihr Album aufgrund der Black Lives Matter Proteste zu verschieben, weil sie sie nicht als etwas behandeln wollte, das irgendwann wieder vorbei geht. Nach dem Motto das war das, jetzt können wir uns wieder um mich kümmern.
Absolut. Struktureller Rassismus ist etwas, das wir nicht als ein flüchtiges Problem ansehen sollten, etwas, wovon wir Weißen sagen: okay, wenn das vorbei ist, dann können wir uns wieder auf MICH konzentrieren. Es muss eine permanente, parallele Situation werden, in der wir über alles ständig nachdenken. Wir müssen lernen, uns nicht nur kurz einer Sache zu widmen, und dann geht es wieder zurück zu uns selbst. Mich hat ehrlich gesagt genervt, dass plötzlich jeder diese schwarzen Quadrate gepostet hat. Meine Timeline war plötzlich voller Leute, die aufgeschlossen und akzeptierend waren und eine Sache unterstützt haben, die sie nicht zwingend unmittelbar betroffen hat. Und plötzlich war das alles wieder weg und man hatte das Gefühl, sie haben es nur solange gemacht, solange sie dachten sie werden geschimpft wenn sie es nicht tun. Alle sind wieder dazu übergegangen, Bilder von ihren Haustieren und ihren Freunden zu posten. Es scheint ein Trend zu sein politisch engagiert zu sein, solange alle wütend sind, und plötzlich ist es wieder vorbei mit den öffentlichen Versprechen, sich über die Rate schwarzer Gefangener in den USA zu informieren. Ich finde so sollte es nicht sein. Okay, das war jetzt ein kleiner, komischer Rant (lacht).
Ich verstehe komplett was du meinst und bin da total bei dir. Durch dich habe ich übrigens auch gelernt, was der Begriff „Solipsismus“ bedeutet. Ich muss zugeben, ich hatte keine Ahnung davon.
Und der Begriff fühlt sich seltsam wichtig an im Moment! Viele Leute denken glaube ich, dass ich ihn mir ausgedacht habe, weil ich mir das Wort „Alapathy“ ausgedacht habe. Aber das gibt es wirklich (lacht). Ich habe den Begriff „Solipsismus“ zum ersten Mal in einem Pinegrove Song gehört, ihn gegooglet und mir ist so schwindelig dabei geworden, dass ich nicht einschlafen konnte. Fuck – existiere ich wirklich? Macht es einen Unterschied, wenn ich es nicht tue? In der Zeit habe ich sehr viel Gras geraucht und bin ausgegangen und nicht gut damit umgegangen, dass ich die meiste Zeit alleine war. Das war vor meiner Zeit in Berlin, als ich gelernt habe, dass allein zu sein gar nicht so schlimm ist. Über Solipsismus nachzudenken ist wirklich gruselig. Es ist auch irritierend, wenn du googlest findest du die Definition: der Akt des egoistisch seins. Und ich möchte klarstellen, dass das nicht das ist, worum es mir geht (lacht).
Ich habe es so verstanden, dass man hinterfragt, ob die Welt um dich herum existiert und ob es zwischen dir und ihr eine Verbindung gibt…? Wenn du keine Verbindung spürst zwischen dir und dem Universum, das dich umgibt.
Ja, hundert Prozent. Ich war auf Tour mit jemandem, sie leidet an einer Dissoziativen Identitätsstörung. Kennst du das, wenn deine Ohren voller Wasser sind, und plötzlich im Schlaf wird dein Kissen warm und du kannst wieder hören und es ist großartig? So fühlt sie sich jeden Tag, sie spürt zu nichts eine Verbindung und ihre Sinne sind ständig vernebelt. Ich bin nie mit so etwas diagnostiziert worden, aber ich fühle mich oft so, als würde ich schlafwandeln, und ich mag das gar nicht. Ich habe versucht zu verstehen, warum mich das so belastet. Andere Leute auf einer Party scheinen ständig total viel Spaß zu haben. Wenn ich die Straße entlanggehe, habe ich automatisch das Gefühl, dass alle anderen viel glücklicher sind als ich. Ich glaube, das hat auch viel mit Social Media zu tun, wo man ständig sein Leben mit dem von anderen vergleicht und immer annimmt, dass alle anderen viel mehr Spaß haben. Solipsismus ist eine psychologische Bewegung, die irgendwann im 19. Jahrhundert entstanden ist. Ich habe damals nicht gelebt, offensichtlich, aber es kommt mir doch als etwas sehr Modernes vor, dass man sich ständig Sorgen macht um seinen Platz in der Welt. Dass man ständig damit beschäftigt ist, eine Checkliste abzuarbeiten: such dir einen Job, mach einen Instagram Account, finde einen Ehemann. Wenn du dir dann bewusst machst, dass du nur ein kleiner, kleiner Punkt in einem riesigen Universum bist, das ist ein erschreckender Gedanke. Die Leute fragen mich, wovon mein Album handelt, und es sind viele verschiedene Geschichten. Aber im Zentrum davon steht das Thema Perspektiven, worüber ich mir viele Gedanken gemacht habe. Als ich mit 17 vom Land in die Stadt gezogen bin, hatte ich plötzlich nicht mehr dieses Gefühl, nur ein kleiner Punkt in etwas Riesengroßem zu sein. Verrückter Weise, man sollte meinen, es ist genau anders rum, wenn man in die Stadt zieht, wo man von viel mehr Menschen umgeben ist. Ich bin am Meer aufgewachsen, da steht man immer einer Seite gegenüber, die nicht von Menschen bewohnt ist. Dann bin ich in die Stadt gezogen und wurde in dieses Leben hinein geworfen, in dem ich plötzlich so viele Optionen hatte. Ich glaube, ich bin ein bisschen davon abgeschweift, Solipsismus zu definieren, aber ich glaube ich habe es als Ausgangspunkt benutzt um mich zu fragen: wie wichtig ist es, dass ich die ganze Zeit über mich nachdenke? Ist es nicht wichtiger herauszufinden, wie ich unter Milliarden anderer Dinge existiere? Ich bin nur ein kleines Puzzlestück, und trotzdem bin ich deswegen nicht weniger wichtig. Im Gegenteil, es macht die Art wie ich mich benehme wichtiger.
Absolut! Das Puzzle-Bild finde ich es sehr gut. Wie schaffen wir es, uns als Gesellschaft nicht mehr und mehr zu spalten, sondern uns umeinander zu kümmern? Ich glaube ja daran, dass ganz kleine Dinge, die zwischenmenschlich selbstverständlich sein sollten, einen großen Unterschied machen. Hallo, tschüss, bitte und danke sagen zum Beispiel.
Richtig!
Jetzt haben wir aber so viel über alles mögliche gequatscht, lass uns noch einmal zurück zu deinem Album kommen. Ich wollte dir zum Abschluss noch sagen, dass ich es eine wunderschöne, sehr ehrliche Platte finde. Und ich habe festgestellt, dass mich Sachen nicht mehr interessieren, die nicht ehrlich sind und von Herzen kommen, sondern mir irgendetwas verkaufen wollen.
Absolut, da bin ich ganz bei dir.
Und meine Hoffnung ist, dass es nicht nur mir so geht. Es gibt so unglaublich viel da draußen, und ich glaube die Leute wollen Dinge erkennen, die authentisch und ehrlich sind.
Ich glaube, ich mache mir manchmal zu viele Gedanken um Dinge. Ich mache mir Sorgen, wenn ich mich nicht mehr an den Namen von jemandem erinnern kann, den ich auf einer Party kennengelernt habe. So etwas kann mich wochenlang verfolgen und niemand anderem ist es aufgefallen. Ich hoffe, ich werde immer mehr zu einer Person, die weiß, wie sie sich selbst sehen will und sich weniger darum kümmert, wie andere Leute sie sehen. Nicht auf eine egoistische Art, mehr nach dem Motto: so bin ich, und das ist okay.