Die dunklen Wälder von Minnesota, eine gescheiterte Hippie Kommune mitten in der Wildnis an einem See. Die Landschaft, die Lebensumstände in einer Kleinstadt, deren Kern aus nicht mehr besteht als einem Diner, einem Eisenwarenladen, einem Geschäft für Anglerbedarf und einer Bank. Das alles spielt in Emily Fridlunds Debütroman „Eine Geschichte der Wölfe“ genauso die Hauptrolle wie die 14 Jahre alte, verschlossene Linda.
Sie und ihre Eltern sind die einzigen, die auf dem Areal der ehemaligen Kommune am See zurück geblieben sind. In der Schule ist sie eine Außenseiterin, die anderen Kinder sehen in ihr das aus der Zeit gefallene Hippie Kind, den Freak, der nur wenig Kontakt mit Gleichaltrigen sucht. Stattdessen fühlt sie sich zu ihrem Geschichtslehrer Mr Gierson hingezogen, aber ausgerechnet dieser wird in einen Kinderpornografie Skandal verwickelt und muss die Schule verlassen. Kurz darauf verschwindet das Mädchen Lily, das Mrs Gierson bezichtigt hatte, sich ihr unsittlich genähert zu haben.
Linda zieht die Einsamkeit der Zivilisation vor. Sie lebt mit der Natur, kennt sich in den Wäldern aus, kümmert sich um die vor dem Haus angeketteten Hunde. Dann zieht in die Hütte auf der gegenüberliegenden Seite des Sees eine junge Mutter mit ihrem Sohn ein, sie werden ein neuer Anknüpfungspunkt in Lindas Leben. Obwohl sie sich nach wie vor schwer tut im zwischenmenschlichen Kontakt, integrieren Patra und Paul sie mehr und mehr in ihr Leben. Linda fängt an, regelmäßig auf Paul aufzupassen, sie erkundet mit ihm den See und die Wälder, während Patra Schriften ihres Mannes, eines Wissenschaftlers korrigiert. Patra und der vier Jahre alte Paul sind auf eine ähnliche Art Außenseiter wie Linda, nur dass sie einander haben. Aber irgendetwas scheint anders zu sein in dieser kleinen Familie, mal ganz davon abgesehen, dass Leo, der Ehemann und Vater die meiste Zeit an einem anderen Ort wohnt. Linda hat nichts dagegen, sie genießt die Dreisamkeit, als Leo schließlich zu der Familie stößt, fühlt sie sich von seiner Anwesenheit eingeschüchtert. Und als Paul sich mehr und mehr seltsam verhält, verdichtet sich das Gefühl, dass in dieser Familie etwas nicht stimmt. Aber Linda ist selbst fast noch ein Kind, das sich danach sehnt, angenommen zu werden. Als die unheilvollen Vorzeichen sich mehr und mehr verdichten, ist sie schlichtweg überfordert damit, ihnen etwas entgegen zu setzen. Gleich dem Kaninchen im Scheinwerferlicht hat sie die Katastrophe kommen sehen – oder nicht? Später muss Linda sich vor Gericht dafür verantworten.
Diese Linda ist keine einfache Hauptfigur. Ein verschlossener, nicht zwingend sympathischer Teenager, der in seinem Bedürfnis nach Anerkennung versucht auszublenden, was nicht ins Bild passt. So ignoriert sie sämtliche Vorzeichen die darauf hindeuten, dass Patra, Leo und Paul auf eine Katastrophe zu schlittern. Als Mädchen verspürt sie eine verstörende Eifersucht auf die vom Lehrer belästigte Klassenkameradin, als junge Frau schreibt sie einen Brief an jenen Geschichtslehrer, in dem sie beteuert, dass sie an seine Unschuld glaubt. Sie macht es einem als Leser wirklich nicht leicht. Aber irgendwie ist auch gerade das das Reizvolle an dieser ungewöhnlichen Coming of Age Geschichte, die einen nach der Lektüre noch lange beschäftigt. Kann man Linda überhaupt für ihre Handlungsunfähigkeit verurteilen? Wieviel Verantwortungsbewusstsein, wieviel eigenverantwortliches Handeln kann man von einer Vierzehnjährigen erwarten?
Eine zusätzliche Faszination geht von Emily Fridlunds schlichter und gleichzeitig poetischer Sprache aus. Stilistisch ist ihr Debüt eine ganz schöne Wucht. Sie lässt Linda ihre Geschichte nach und nach in mehreren verschachtelten Zeitsprüngen offenbaren und hält so die Spannung bis zum bitteren Schluss hoch. Mit der Schwere, die hier über allem liegt, muss man bereit sein sich auseinander zu setzen. Dann hat man mit „Eine Geschichte der Wölfe“ ein trauriges aber kraftvolles, sehr individuelles Leseerlebnis.
Info: Emily Fridlund wuchs in Minnesota auf. Ihr Debütroman „Eine Geschichte der Wölfe“ ist in den USA ein Verkaufsschlager und nun auch in deutscher Übersetzung im Berlin Verlag/PIPER erschienen. Eine Leseprobe gibt es hier.
Gelesen von: Gabi Rudolph