2004 berührte Fatih Akin mit seinem Film „Gegen die Wand“ das Lebensgefühl einer ganzen Generation. Das mehrfach preisgekrönte Drama um die lebenshungrige Deutschtürkin Sibel, die auf der Suche nach mehr Freiheit eine Zweckehe mit dem älteren, desillusionierten Cahit eingeht ist ein starkes, berührendes Manifest, eine leidenschaftliche Abhandlung über die Suche nach persönlicher Freiheit und die Grenzen dieser. Es ließ in seiner Wucht kaum jemanden unberührt.
In ihrem Debütroman „Ellbogen“ erzählt Fatma Aydemir die Geschichte der 17 jährigen, in Berlin geboren und lebenden Hazal, und auch Hazal hat „Gegen die Wand“ gesehen, gemeinsam mit ihrer Mutter. Die Mutter ist schockiert, die Tochter elektrisiert. Offene Rebellion ist dabei so gar nicht Hazals Ding. Es ist eher eine unterdrückte, mehr und mehr von ihr Besitz nehmende Unzufriedenheit, die sie quält. Tagsüber im Rahmen einer Bildungsmaßnahme erfolglos Bewerbungen schreiben, nachmittags beim Onkel in der Bäckerei aushelfen, abends mit den Eltern auf der Couch türkische Serien gucken, die früher auch irgendwie spannender waren. Im besten Fall mit ihren Mädels beim befreundeten Grasdealer Eugen abhängen und diese nagende Unzufriedenheit weg dröhnen. Ganz so hat Hazal sich das Leben nicht vorgestellt, so kurz vor dem Erwachsen werden. Aber wie dann? Darauf hat sie leider auch keine Antwort.
Überhaupt ist das nicht so leicht mit der eigenen Meinung und mit dem für sich oder andere einstehen auch nicht. Als sie im Drogeriemarkt beim „vergessen zu bezahlen“ erwischt wird, bricht sie in Tränen aus und spielt die Karte des unterdrückten türkischen Mädchens aus, das Angst vor der Bestrafung durch den Vater hat, auch wenn sie selber weiß, dass das „voll gelogen“ ist. Als Dealer Eugen von Hazals Bruder abgezogen und zusammen geschlagen wird, besteht Hazals Freundin Elma darauf, dass Hazal Stellung bezieht. Hazal stellt fest, dass sie es nicht kann und, wenn sie ganz ehrlich mit sich selbst ist, es irgendwie auch nicht will.
In der Nacht ihres achtzehnten Geburtstages kommt der ganze Frust dann richtig raus. Die Mädchenclique wird an der Tür zum angesagten Club abgewiesen, während Franzosen, Spanier und Engländer zufrieden an ihnen vorbei ziehen. Auf dem Nachhauseweg bricht der Streit über Hazals Rückgratlosigkeit wieder auf. Dann gerät auf dem U-Bahnsteig ein Student mit den Mädchen aneinander und was beginnt wie eine harmlose Kabbelei endet in Gewalt. So sehr, dass Hazal weiß, das geht nicht mehr weg. Sie flüchtet nach Istanbul, wo sie noch nie in ihrem Leben war, zu Mehmet, den sie irgendwie liebt aber nur über Facebook kennt. Flucht kombiniert mit der Suche nach der eigenen Identität. Nur leider will das Gefühl der Ratlosigkeit auch in der Türkei nicht so recht verschwinden.
Fatma Aydemir, selbst als Kind türkischer Eltern in Deutschland geboren, versucht durch ihre Figur der Hazal einer Generation, die geprägt ist von Perspektivlosigkeit und Ratlosigkeit, eine Stimme zu verleihen. Über große Strecken gelingt ihr das sehr gut, sie hantiert glaubwürdig mit den Charakteren und der Sprache ihrer jugendlichen Figuren. Manchmal könnte das Ganze noch etwas mehr erzählerische Schärfe vertragen, mehr Momente wie die, in denen Hazals Freundin Gül eine Gruppe Jungs in der Bahn abcheckt und wieder auf Distanz geht, als sie erkennt, dass es keine Türken, sondern arabische „Fluchtis“ sind. Man möchte diesen Mädels gerne noch mehr derart ungeschönt aufs Maul gucken. Aber so ist nunmal auch diese Hazal, kein extremer Charakter, mehr eine Schwimmerin, die mit den Armen rudert und ihre Orientierung, ihren Platz in der Welt sucht. Dass einen der plötzliche Ausbruch an Gewalt verwundert, dass man Hazal so vorher nicht kennengelernt hat, stört dabei nicht, denn Hazal versteht ja selbst nicht, wo das plötzlich her kommt. Gut tut der Geschichte ebenfalls, dass Fatma Aydemir nicht versucht, die moralische Läuterung ihrer schlaffen Heldin zu erzählen, ihr ihre Ratlosigkeit bis zum Schluss nicht abnimmt. Das ist frustrierend, aber auch ungemein authentisch. Das Leben nimmt einem nunmal nicht alle Fragen ab, wenn man erst mal bis zum Hals drin steckt.
Info: Fatma Aydemir wurde in Karlsruhe geboren und lebt in Berlin, wo sie als Redakteurin für die taz tätig ist. „Ellbogen“ ist ihr erster Roman. Er ist im Hansa Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Eine Leseprobe gibt es hier.
Gelesen von: Gabi Rudolph