Die Geschichte der englischen Stadt Skelmersdale liest sich so abenteuerlich, dass man kurz überlegt, ob das nicht alles erfunden ist. Aber manche Geschichten sind so gut, die kann nur das Leben schreiben. Im Rahmen der Nachkriegsumverteilungen der Landesbevölkerung wurde Skelmersdale 1961 auf dem Reissbrett entworfen, mit dem Ziel, idyllischen, funktionablen Wohnraum zu schaffen – eine Fehlplanung, wie sich leider herausstellte. 20 Jahre später, in den frühen 80ern, wurde die halb verfallene Stadt dann zur offiziellen Heimat der „Transcendental Meditation“, der transzendentalen Meditationsbewegung. In dieser Zeit zog es die Familie von Simon Tong nach Skelmersdale. Tong ist heute Musiker, ehemaliges Mitglied unter anderem von The Verve, Blur und den Gorillaz und aktuell Teil der dreiköpfigen Formation The Magnetic North. Im Interview haben er und seine Bandkollegen Hannah Peel und Gaiwan Erland Cooper uns erzählt, wie sie auf die Idee gekommen sind, ihr neues Album „The Prospect of Skelmersdale“ eben jener Stadt zu widmen. Es war ein spannendes Gespräch über Heimat, Herkunft und natürlich Musik.
Ihr drei seid ja alle in verschiedenen Projekten aktiv. Und dann habt ihr mit eurer gemeinsamen Band auch noch ein Album geschaffen, das sich von der Herstellung her auch eher zeitintensiv anhört. Wie macht ihr das nur?
Erland: Das Dasein in dieser Band ist immer sehr intensiv. Manchmal zu intensiv für mich.
Hannah: (lacht) Sogar unsere Proben! Wir haben gerade mit einer Chellistin geprobt. Sie sitzt an der Seite und kann von dort aus uns drei und unsere Dynamiken beobachten. Die glücklichen Höhepunkte, die Unsicherheit, die Kämpfe… sie sitzt oft nur da und lacht sich kaputt. Wir hatten aber auch eine lange Pause seit dem letzten Album. Es hat uns viel Zeit gekostet, Ideen zu entwickeln. Letztes Jahr hatten wir schon ein Album fertig, aber das haben wir wieder gekippt. Wir mussten erst einmal herausfinden, was der Ursprung des Ganzen sein sollte und dann kamen wir dorthin, dass es Skelmersdale sein muss. Sobald wir uns darüber einig waren, ging alles sehr schnell. Ich glaube, weil wir alle an so vielen verschiedenen Projekten arbeiten wissen wir, wo unsere Stärken und unsere Schwächen liegen. Es ist harte Arbeit.
Erland: Es gibt immer zu viel zu tun. Manchmal sperrt Hannah mich ein, lässt mir was zu Essen da und sagt: mixe den Song. Ich darf erst wieder raus wenn ich ihn fertig habe (lacht). Aber es stimmt, sobald wir wussten was wir machen wollen und uns klar war wir bewegen uns alle in die gleiche Richtung, ging es sehr schnell.
Ich habe gelesen, dass die Idee zu eurem ersten gemeinsamen Album Dir, Erlend, im Traum erschienen ist.
Erland: Das war sehr, sehr seltsam. Ich habe damals schwer an Schlaflosigkeit gelitten. Simon hatte mir einen Song vorgespielt und er ging mir immer wieder im Kopf rum. Er hat mich die ganze Nacht nicht losgelassen. Wahrscheinlich war ich einfach sehr nostalgisch und habe von Zuhause geträumt. Um drei Uhr morgens habe ich eine Mail an Simon geschickt. Als ich später aufgewacht bin habe ich kurz gedacht, das hast du hoffentlich nicht wirklich abgeschickt. Ich hatte eine komplette Tracklist, bestehend aus Orten der Orkney-Inseln. Genau so ist es am Ende dann auch entstanden. Deshalb fühlte es sich richtig an, beim zweiten Album wieder von einem Ort auszugehen, diesmal von einem aus Simons Kindheit. Simon hat uns ebenfalls eine Liste geschickt. Sie ist ihm zwar nicht im Traum erschienen, aber wir wussten sofort, was er uns damit sagen will. Also sind wir los gefahren, nach Skelmersdale und haben gehofft, dass wir dort Inspiration finden und mit Ideen zurückkommen.
Das heißt, bei diesem Album war Euch sofort klar, dass Ihr wieder ein Konzeptalbum über einen Ort machen möchtet?
Simon: Ja, irgendwie schon. Das heißt, wir haben zwischendrin versucht ein „normales“ Album zu machen.
Erland: Was „normale“ Leute so machen (Gelächter).
Hannah: Dem Ganzen hat einfach die Richtung gefehlt.
Die habt ihr mit Skelmersdale definitiv gefunden. Ich habe mich in die Geschichte der Stadt rein gelesen und dachte, das kann doch nicht echt sein! (Gelächter)
Hannah: Als wir zum ersten Mal gemeinsam dort waren, wollten wir die Idee eigentlich direkt wieder verwerfen. Wir dachten, da geht doch niemand mit. Ich persönlich habe es sofort dort geliebt. Ich mag diese Beton Architektur, mitten im Nirgendwo, die Menschen einmal entworfen haben, um das Idealbild einer Stadt zu kreieren. Sie haben alles so perfekt geplant, es gab Strom, Innentoiletten und eine Waschmaschine in jedem Haus. Sie haben ein Shopping Center entworfen, das das Herz der Stadt werden sollte, sie hatten die Vorstellung dass jeder dort hin geht und alles sich dort trifft. Alle Bedürfnisse sollten dort befriedigt werden. Aber leider haben sie vergessen, einen sinnvollen öffentlichen Nahverkehr einzurichten und kaum jemand, der dort gelebt hat, konnte sich ein Auto leisten.
Gebaut wurde die Stadt 1961. Aber es gab bereits einen alten Stadtkern, richtig?
Simon: Ja, es gab ein sehr kleines Dorf, das schon gute 1000 Jahre alt war, aber das hat man überbaut. Sie haben die Namen der alten Siedlungen und Farmen übernommen und die neuen, großen Wohnsiedlungen danach benannt. Es ist fast so als hätten diese brutalen Betonsiedlungen noch ein wenig vom Geist der alten Farmhäuser in sich. Deshalb erschien uns unsere Musik so passend, die ja auch einen Fuß in der Vergangenheit und einen in der Gegenwart hat.
Hannah: Als Simon in den Achtzigern dort hingezogen ist, war die ganze Industrie schon fort und die „Transcendental Meditation“ Bewegung hatte sich dort niedergelassen. Es war sehr, sehr günstig für sie, sie haben viel Land gekauft um ihre Gemeinde zu bauen, inklusive goldenem Dom. Außerdem liegt Skelmersdale buchstäblich in der Mitte von England. Es war ein unglaublicher Kontrast zwischen den Menschen, die dort überlebt haben und der meditierenden Mittelschicht, die sich dort niedergelassen hat und ihre Vibes verbreitet haben. Das hat die Stadt natürlich wahnsinnig beeinflusst. Wenn man heute dort ist, ist die Atmosphäre überhaupt nicht mehr hart und düster, im Gegenteil. Und wir haben ein paar unglaubliche Leute dort getroffen.
Erland: Ich muss zugeben, meine Wahrnehmung war ein bisschen anders am Anfang.
Hannah: Wirklich?
Erland: Nach dem ersten Mal dachte ich, ich will nie wieder dorthin zurück. Inwischen war ich vier mal dort und jedes Mal freue ich mich wiederzukommen. Mit jedem Mal habe ich ein besseres Gefühl zu dem Ort.
Wie ist es für dich, Simon? Du bist ja immerhin dort aufgewachsen. Wie lange hast du in Skelmersdale gelebt?
Simon: Ungefähr 12 Jahre.
Und leben deine Eltern noch dort?
Simon: Meine Mutter wohnt noch dort. Als man die Stadt in den Sechzigern gebaut hat, hat man viele Bäume gepflanzt. Jetzt, 50 Jahre später, hat man fast das Gefühl, dass man im Wald steht. Die Natur trifft auf Beton. Dadurch ist der Ort viel freundlicher als früher. Als wir in den Achtzigern dort hingezogen sind, war es schrecklich. Sehr harsch, sehr grau. Heute hat der Ort viel mehr Seele. Die Einwohner sind zusammengewachsen und kümmern sich mehr umeinander. Damals sind die Leute aus den Slums von Liverpool dorthin gezogen, um dann festzustellen, dass sie quasi im Nirgendwo sitzen und es keine Jobs gibt. Eine Zeitlang sah es so aus, als würde Industrie sich dort niederlassen, man hat den Firmen billig Land zur Verfügung gestellt. Aber es hat sich auf die Dauer nicht gehalten, die Unternehmen sind nach Brasilien gezogen oder wohin auch immer, wo man günstiger produzieren kann.
Das ist ein bisschen wie Sim City, oder?
Simon: (lacht) Stimmt!
Wenn man bei Sim City anfängt eine neue Stadt zu bauen, ist es immer wahnsinnig aufregend. Man sieht die kleinen Autos, die Leute ziehen ein, man baut ihnen Industrie und Schulen und denkt man hätte an alles gedacht und irgendwann…
Erland: Mist, ich habe kein Stadtzentrum gebaut! (Gelächter)
Simon: Wir haben kein Krankenhaus und keinen Bahnhof!
Irgendwann wird es immer anstrengend! Die Industrie zieht weg, die Leute haben keine Jobs mehr, man muss überall Gelder kürzen und die Leute protestieren auf der Straße. Dann möchte man nur noch alles niederwalzen und neu anfangen.
Erland: Wunderbar. Ich liebe es, dass wir in diesem Interview auf Sim City gekommen sind!
Aber wirklich spannend finde ich, wie ihr all diese Eindrücke am Ende musikalisch umgesetzt habt.
Hannah: Wir wussten genau, was wir vom letzten Album beibehalten wollten, was der Kern unseres Sounds ist. Simons Art Gitarre zu spielen ist zum Beispiel sehr eigen. Erlands Weise zu produzieren, unsere Stimmen, das wussten wir würde alles wieder genau so sein. Dann haben wir uns mit Dingen beschäftigt, die wir mit den Sechzigern verbinden, Fernsehshows, Musik, Fotos. Allein wenn man Fotos aus der Zeit sieht weiß man sofort, um welche Ära es sich handelt, man sieht es an den Farben. Das Album „Chelsea Girl“ von Nico hat uns sehr inspiriert. Als wir es gehört haben war uns klar, dass wir Flöte und Klarinette wollen. Auf diese Weise hat sich der Sound des Albums geformt und wurde dann weiter inspiriert von den Texten und der ganzen Hintergrundgeschichte. Das war für mich der Moment als ich wusste, wir haben unsere Platte.
Erland: Für mich war es ein großer Schwarz-Weiß-Moment als wir einmal einen ganzen Haufen Material geschrieben hatten, das sich vom Sound her gut anhörte und uns das auf einer Autofahrt angehört haben. Wir waren uns alle einig, das klingt schon gut, aber es fehlen einfach noch ein paar richtig gute Songs. Da war uns klar, dass wir nach Skelmersdale müssen und die Orte, über die Simon immer spricht, als Eckpunkte nutzen müssen.
Simon: Wir haben bis jetzt beide Alben damit angefangen, dass wir die Songtitel fest gelegt haben. Bevor wir irgendwelche Musik hatten. Beim ersten Album hatte Erland diese Ortsnamen, aus denen die Songs entstanden sind. Diesmal habe ich eine Liste von Orten, Leuten und Erlebnissen gemacht. Wir sind die Liste durchgegangen und haben versucht Songs zu schreiben, die zu den Bildern passen, die wir im Kopf hatten.
Erland: Es ist so viel interessanter so zu arbeiten. Diese Art sich einzuschränken kann sehr inspirierend sein.
Was ich letztendlich an eurem Album am wichtigsten finde: Es ist musikalisch wirklich sehr schön geworden. Wenn man so ein starkes Konzept hat, so eine große Idee, dann kann es theoretisch ja auch passieren, dass man sich darin verzettelt und der Unterhaltungsgedanke am Ende zu kurz kommt. Das ist zum Glück nicht der Fall. Letztendlich habt ihr tolle Popsongs geschrieben, die auch funktionieren, wenn man sich nicht mit dem Kontext beschäftigt.
Erland: Das ist schön, dass du das sagst! Ich glaube auch, das Konzept war mehr für uns, als dass der Hörer sich zwingend damit beschäftigen muss. Wir mussten uns eine Brücke bauen, um unsere Kreativität in Gang zu setzen.
Und das hat offensichtlich sehr gut funktioniert.
Hannah: Danke!
Interview: Gabi Rudolph