Bei Italien denken die meisten wohl zuerst an kuriose Politiker wie Berlusconi oder an Musiker wie Ramazzotti und Zucchero, an Sonnenschein, antike Ruinen und das Meer. Eher weniger denkt man an so düstere Märchen wie Sycamore Age sie ins Leben rufen. Es scheint gar unmöglich, dass die Toskana eine Band mit einer solchen Düsternis in Texten und Melodien hervorbringen kann. Zumindest war das mein erster Gedanke, als ich vor ein paar Jahren das erste Mal über diese Band gestolpert bin – ein Hoch auf Twitter, wenn man so will. Sycamore Age wurden im Vorfeld der Popkomm 2011 Leuten empfohlen, die düstere und einzigartige Musik mögen. Seit dem ersten Hören liebe ich ihren Sound – sie pendeln zwischen Wahnsinn und Schönheit, sind eindringlich und düster, aber zur Abwechselung kein Heavy Metal oder auch nur daran angelehnt. Sie passen in keine der Schubladen, nicht mal in mehrere.
Ihr Debütalbum, das heute bei uns erscheint, kenne ich schon sehr lange – noch bevor Sycamore Age einen Vertrieb und ein Label in ihrem eigenen Land hatten, haben sie es mir gegeben. Wir sind damals zusammen über die Popkomm und das Berlin Festival geschlendert. Selbst nach all der Zeit gibt es kein Album, das mich mehr auf Anhieb beeindruckt hat und selbst Jahre später immer noch fesselt. Im ersten Moment hören sie sich wie 1900 an, manchmal wie die Industrialisierung, wie alte zerfledderte Schwarzweißfotos von Industriegebäuden aus Backsteinen und Männer in schicker Kleidung aus eben dieser Zeit. Besonders bei dem Song „My Bifid Sirens“ ist das der Fall – er fängt mit einem durchdringenden und treibendem Dampflok-artigen Geräusch an und erzeugt in der ersten Hälfte des Songs Stress. Diesen Stress wird durch eine Wandlung im zweiten Teil des Songs wieder gemildert. Er verfällt in eine schöne, weite und dadurch unheimliche Melodie und setzt dadurch den Kontrast.
Viele Songs werden von Francesco Chimentis gefühlvoller Stimme mitgetragen. „Binding Moon“ benötigt nicht mehr als ihn und ein Klavier um uns in seine Welt zu verführen. „Happy!!!“ kommt auch aus der verdrehten Welt von Sycamore Age – da stellt sich dir Frage, ob man wirklich glücklich sein kann, wenn man seine Vergangenheit wegwirft. Der Song enthält wohl alles was ein Song zu diesem Thema braucht: Klatschen, Chorgesang und eine energiegeladen Melodie. In ihrer Welt resultiert daraus ein Song, der nicht weiter von dem Gefühl des Glücklichseins entfernt sein könnte. Es fühlt sich so an wie wenn man sich nur einredet glücklich zu sein, ohne es wirklich zu sein. Die Leere schwingt mit. Bei „Astonished Birds“ meint man dann das Lachen eines Narren auf dem Jahrmarkt zu hören und verzerrte Gitarren bei „Kelly!!!“. Das Album ist ausgesprochen abwechslungsreich.
In der Wahl ihrer Instrumente sind Sycamore Age wenig konventionell – es gibt zwar auch Gitarren und Schlagzeug, Piano, Kontrabass und andere „normale“ Instrument, aber sie benutzen eben auch eine Muschel, ein Glas mit Keramikscherben und eine Blechdose mit Murmeln um den gewünschten Sound zu erreichen. Gewürzt wird alles noch mit einer Prise Elektronik. Obwohl ihre Musik an vergangene Zeiten erinnert, ist sie nicht altmodisch – sie ist zeitlos, sie folgt keinem aktuellen oder vergangenem Trend. Sie steht für sich allein in einer Zeit, in der man manchmal denken könnte, dass alle nur noch voneinander kopieren.
In den Texten der drei Gründungsmitglieder Stafano Santoni, Davide Andreoni und Francesco Chimenti, der Art von Francesco zu singen, seiner Betonung und auch in den Melodien gibt es unendlich viele Dinge zu entdecken, wenn man sich auf diese Reise einlässt. Live sind sie mittlerweile zu siebt. Für mich ist es schon weit mehr als eines der besten Alben des Jahres. Oder wie es in ihrem Song „Dark And Pretty Part Two“ heißt: „You tear up my brain/ my stake’s on fire/ but you’re so lovely/ so dark and pretty“
Jetzt bleibt nur noch ein zu hoffen: dass alle sieben Mitglieder mal wieder nach Deutschland finden, um uns mit ihrer fantastischen Liveshow bezirzen. Bis dahin kann man sich mit dem Video zum Song „Heavy Branches“ vergnügen:
Verliebt hat sich: Dörte Heilewelt
VÖ: 15.03.2013