Alfie Templeman: „Die Dinge kommen und gehen, aber das, was bleibt, ist künstlerische Integrität“

Anfang 2022, als ich das erste Mal mit Alfie Templeman gesprochen habe, hatte sich die Welt noch nicht vollständig von der Pandemie erholt. Alfie war zu Hause in seinem Zimmer und zeigte mir per Zoom seine Plattensammlung. Wir unterhielten uns über Prince, der ungefähr so alt war wie Alfie, als er sein erstes Album veröffentlichte. Und es ist kein Zufall, dass dies eines der Themen ist, auf die wir sofort zurückkommen, als wir uns wieder treffen. Diesmal persönlich im selben Raum, unterhalten wir uns über sein neues Album „Radiosoul“, und der Funk-Vibe ist auf diesem Album allgegenwärtig. Aber gleichzeitig ist das Album genauso temporeich und herrlich chaotisch wie ein Gespräch mit Alfie. 

Als ich „Eyes White Shut“ zum ersten Mal gehört habe, dachte ich sofort: Hast du viel Prince gehört, als du an diesem Album gearbeitet hast?

Das habe ich! Und wie! Oh mein Gott, ich liebe ihn. Er ist einer meiner absoluten Lieblingskünstler. Vor allem „1999“, „Sign ‚o the Times“, „Lovesexy“ und solche Sachen. All das Zeug aus den Achtzigern. Ich mag eigentlich keine Musik aus den Achtzigern, aber er war ein verdammtes Genie. 

Bei vielen seiner Songs vergesse ich sogar, dass sie aus den Achtzigern stammen. 

Er ist einfach irgendwie alles, oder? 

Wir kommen vom Thema ab, wie es gerne passiert, wenn man sich mit Alfie unterhält. Er erzählt mir Geschichten über seinen Tontechniker, der auch für Prince gearbeitet hat, und wie verärgert er war, als sein letzter Scheck nicht ankam, weil Prince überraschend gestorben war. Am Ende schauen wir uns Videos von ihm auf Alfies Handy an, laut Alfies Aussage liebt er außerdem Deutschland. „Oh Gott, ich glaube, das ist das Video, in dem ich in die Toilette kotze“, schreit er irgendwann. Aber da ist es schon zu spät, ich habe es gesehen. Also erzählt er mir, wie es dazu kam, dass sie ihr Hotelzimmer überflutet haben. Die Moral von der Geschichte: Mische niemals Jägermeister mit Whiskey. 

Wie sind wir von Prince da jetzt hingekommen?

Wie wir von Prince dazu gekommen sind, dass wir unser Hotel überflutet haben? Total random, oder? (Und irgendwie kommen wir wieder vom Thema ab und reden schließlich über Jungle.) Jungle sind unglaublich! Sie sind jetzt an der Spitze der Welt, das ist großartig. Ich habe viele Sachen mit einem der Jungs von Jungle aufgenommen, Tom. Er ist reizend. Aber in letzter Zeit auch sehr beschäftigt. Außerdem hat er innerhalb eines Jahres zwei Kinder bekommen. Ich war um ein Uhr bei ihm im Studio, und um drei musste er die Session beenden, um seine Kinder aus der Kita abzuholen. Eine zweistündige Session! Wir haben es trotzdem geschafft, ein paar Gitarren aufzunehmen. 

Aber das bringt mich hierzu: Ich finde es toll, wie kollaborativ du dieses Mal gearbeitet hast. Ganz im Unterschied zum letzten Mal, als wir gesprochen haben. Du hast mir damals gesagt, dass du alles allein gemacht hast. 

Ja, so war das. Alles fand nur in meinem Schlafzimmer statt. Ich habe danach ein paar Sessions gemacht, es waren 14 Songs auf dem Album, ich würde sagen, neun davon habe ich wahrscheinlich ganz alleine gemacht. Aber selbst dann, wenn ich mit Leuten zusammengearbeitet habe, ist das meiste immer noch online passiert. Und das meiste habe ich immer noch selbst produziert. Ich weiß nicht, ich fühlte mich ein bisschen eingeschränkt, was meinen Produktionsstil angeht. Besonders in der Zeit, nachdem wir mit „Mellow Moon“ auf Tournee waren. Wir kamen zurück und ich dachte: Ich weiß nicht wirklich, was ich jetzt machen soll! Ich wollte nicht immer die gleichen Sounds haben. Wenn du produzierst, arbeitest du immer mit derselben Soundbank, du hast die gleiche Art von Gitarrensounds, die du verwendest, das gleiche Schlagzeug und so. Ich hatte das Gefühl, dass ich mit anderen Produzenten zusammenarbeiten musste, um immer noch die gleichen Songs zu schreiben, aber auch einen anderen Arbeitsansatz zu bekommen. Es fühlte sich einfach erfrischend an. 

Du bist ja noch so jung! Und du bist so unglaublich geschickt und so unabhängig in deinem Arbeitsprozess. Es ist einfach eine gute Erfahrung, zu sehen, was andere zu bieten haben. 

Ja. Ich habe eine Menge gelernt. Jetzt, wo ich dieses Album gemacht habe, glaube ich, dass ich bereit bin, wieder mehr selbst zu produzieren. Es sind sechs Produzenten an dem Album beteiligt. Ich habe genug gelernt, um das Gefühl zu haben, dass ich in die nächste Phase gehen und verschiedene Dinge selbst ausprobieren kann. Alle meine Lieblingskünstler machen alles selbst. Wie Prince! Er war so talentiert. Bei Prince ist es seltsam, weil niemand wirklich merkt, wie talentiert er war, weil seine Songs mehr durchscheinen als die Tatsache, dass er alles selbst gespielt hat. Dasselbe gilt für Kate Bush. Sie hat den größten Teil ihres ersten Albums geschrieben, als sie etwa 14 war. Sie hat „Wuthering Heights“ mit 16 geschrieben. Ich weiß nicht, wie man das macht. Auch textlich! Das ist so ein Ding von mir, ich bin nicht wirklich gut mit Texten. Zumindest bis vor kurzem. Wenn ich Texte schreibe, kommen sie aus der Erfahrung. Ich denke mir nichts aus. Ich kann nicht sehr gut Geschichten schreiben. Ich bin besser darin, einfach persönliche Dinge in meinen Texten zu erzählen. Und das hat gut funktioniert bei diesem Album. 

Ich schätze es sehr, wenn junge Menschen wie du sich von diesen legendären Künstler*innen inspirieren lassen. Ich kenne viele Leute in meinem Alter, die befürchten, dass unsere Legenden eines Tages vergessen sein werden. 

Das werden sie nicht. Man muss einfach Integrität haben. Das ist das Wichtigste. Seitdem es Musik gibt, hat sie so viele verschiedene Formate durchlaufen. Vinyl kam auf den Markt, dann die CD, dann hatten wir MP3-Player. Jetzt wird alles durch TikTok und so verdaut. Die Dinge kommen und gehen, aber das, was bleibt, ist künstlerische Integrität. Und einfach die Idee, dass wahre Künstler gute Alben und gute Musik machen wollen. Das überdauert die Zeit, wohingegen TikTok und soziale Medien für mich nicht so wichtig sind. Ich denke, Musik ist Musik, das ist die Ebene, auf der ich mich ihr annähere.

Wie entdeckst du neue Musik?

Ich habe das Glück, Freunde zu haben, die einen tollen Musikgeschmack haben! Deshalb bekomme ich viele Empfehlungen von ihnen. 

Alfie zeigt auf seinen Freund und Bandkollegen Jos. Sie fangen an, über ihre unterschiedlichen Musikgeschmäcker zu reden und darüber, wie sie neue Sachen entdecken, während sie zusammen Auto fahren. Wie ich herausfinde, machen die beiden schon zusammen Musik, seit sie buchstäblich Kinder waren, ungefähr seit ihrem siebten Lebensjahr. Am Tag, bevor wir uns zum Interview zusammensetzen, spielen sie gemeinsam ein kleines Showcase. Nur die beiden, begleitet von einer Drum-Maschine, die immer wieder denselben Beat spielt, während sie auf ihrer Gitarre und ihrem Bass herumhacken und es mühelos wie eine ganze Band klingen lassen. Die Chemie ist unbestreitbar. 

Ehrlich gesagt, manchmal gehe ich in einen Plattenladen und kaufe einfach irgendwas. Wenn ich ein Cover sehe… kaufe ich es einfach und hoffe, dass es kein Mist ist. Manche Platten sind wirklich billig, ein Pfund oder so. 

Alfie lacht, wie er es so oft tut. Wir fangen an, über die Zeit zu schwärmen, als ich ein Teenager war und genau das gemacht habe. Ich verbrachte ganze Nachmittage in einem Plattenladen, suchte mir die Cover aus, die ich interessant fand, setzte mich an den Tresen und hörte mir einen ganzen Stapel Platten an. Und am Ende habe ich dann eine gekauft, wenn es gut lief und ich genug Taschengeld hatte. Alfie taucht mit ein, als wäre er selbst in den Achtzigern groß geworden. Bei ihm kann man nie sagen, ob er ein begeistertes Kind ist, das die Welt zum ersten Mal entdeckt, oder eine alte Seele, die schon alles gesehen hat. 

Und hast du auf diese Weise schon gute Sachen entdeckt?  

Ja, vor allem Drumbeats und so was, was manchmal wirklich gut zum Sampeln ist. Ein Freund von mir, Dom, hat Milliarden von billigen Platten. Er schließt seinen Plattenspieler an seinen Computer an, an sein Interface, und sampelt sie. Ich finde das wirklich cool. Sowas würde ich auch gerne mehr machen. 

Es ist so cool, dass es diese Dinge heutzutage immer noch gibt. Wie Sampling von Platte… 

Oh ja, das ist immer noch eine große Sache. Als wir aufgewachsen sind, standen wir total auf J Dilla und darauf, wie er die Art und Weise Schlagzeug zu spielen komplett umgeschrieben hat. (Alfie fängt an zu beatboxen und präsentiert auf diese Weise eine Reihe verschiedener Schlagzeugbeats.) Bei ihm klingt es eher so, als würde man die Treppe runterfallen. Aber irgendwie ist das total befriedigend. Ich habe damit bei einigen Songs auf diesem Album herumgespielt. Am Ende gibt es einen Song mit dem Titel „Run to Tomorrow“ und der Beat ist wie… (Alfie beginnt wieder zu beatboxen) Es ist wirklich seltsam. Ja, er war derjenige, der Sampling zu einer wirklich großen Kunstform gemacht hat. 

Ich frage mich gerade, ob die Welt vielleicht doch noch nicht verloren ist. Oder ob wir nur ein Haufen Nerds sind, die zusammen in einem Raum sitzen. 

Ich glaube, wir sind wirklich die Minderheit. Normalerweise fühle ich mich ein bisschen komisch, wenn ich die Straße entlanglaufe. Zum Glück gibt es in London, wo ich wohne, jede Menge verrückte, wirklich verrückte Leute. In Südlondon sind alle ein bisschen verrückt. (Zu Jos) Wie du. Da, wo ich aufgewachsen bin, es ist ein sehr kleines Dorf, da war nicht viel los. Ich musste die meiste Musik selbst entdecken. Aber seitdem ich in London lebe, entdecke ich so viele Arten von Musik. Um ehrlich zu sein, haben wir nach der Pandemie viele Konzerte gespielt, aber ich selbst war noch nicht auf besonders vielen Konzerten. Als Kind war ich sehr lärmempfindlich. Nachdem die Pandemie vorbei war, und vor allem seit ich nach London gezogen bin, habe ich durch Konzerte viel Musik entdeckt. Das beste Gefühl ist, wenn man sich eine Band anschaut und am Ende die Vorband noch besser findet. Man wird zu ihrem größten Fan und vergisst fast, wegen wem man eigentlich da war (lacht). Aber wir wurden auch schon bei unseren eigenen Auftritten in den Schatten gestellt! Wir hatten Vorbands, die viel besser waren als wir. 

Alfie fängt an zu erzählen, wie sie einmal in Japan waren und von ihrer eigenen Vorband, die an diesem Tag ihren ersten (und einzigen) richtigen Gig spielte, in den Schatten gestellt wurden. Dann erzählt er, wie er einmal für Declan McKenna in der Royal Albert Hall Gitarre spielte und hinfiel, weil der Boden so rutschig war. Und dann davon, wie sie Vorband von The Wombats in Australien waren und am nächsten Tag Wombats im Zoo gesehen haben. Er ist so gut in diesen kleinen Geschichten, die in einem nie abreißenden Bewusstseinsstrom aus ihm heraussprudeln. Der Raum vibriert ständig vor Lachen, und meistens ist er derjenige, der am lautesten lacht. Es ist unglaublich ansteckend. 

Ist es nicht verrückt, nach der Pandemie wieder mitten im Leben zu stehen? 

Am Anfang war es wirklich überwältigend. Ich glaube, alle waren auf Tournee. Nachdem die Sperre aufgehoben wurde, war es für Fans von Live-Musik ziemlich intensiv, sie waren wie ein Kind im Süßwarenladen. Es haben so viele Konzerte stattgefunden! Zu welchem sollte man gehen? Auch für uns war 2022 das erste große Tourneejahr. Das war der Zeitpunkt, an dem alles wieder normal wurde und wir überall hingehen konnten. Am Ende haben wir in dem Jahr hundert Shows gespielt. Es war sehr intensiv und danach war ich sehr, sehr müde. Ich konnte keine Musik mehr schreiben. Aber manchmal muss man so etwas tun. Hundert Shows spielen und dann einfach merken: Oh, ich bin ausgebrannt. Dieses Mal werde ich zuerst das Album herausbringen und mich dann erstmal entspannen. Und dann werde ich auf Tour gehen. Beim letzten Album haben wir zwei Shows am Tag gespielt. Wir waren auf Tour und haben gleichzeitig das Album beworben. Aber wir haben es geschafft. Wir waren kaputt, aber wir haben durchgehalten. 

Glaubst du, das Album wäre so geworden, wie es jetzt ist, wenn es diese Erfahrungen nicht gegeben hätte?

Das frage ich mich immer. Ich denke, dass ich mich so weit wie möglich pushen wollte. Also denke ich, dass ich musikalisch immer noch genauso viel experimentiert hätte. Es ist eher das Thema der Songs. Ich habe das Gefühl, dass auf diesem Album eine ganz besondere Energie zu spüren ist. Dieser ganze Kontrast, das war eine sehr besondere Erfahrung und ein ganz besonderes Gefühl. So viele Emotionen. Ja, ich denke es wäre anders geworden. Ich glaube, irgendwie bin ich in den letzten Jahren besser im texten geworden. Ich war definitiv sehr aufgeregt, wieder ins Studio zu gehen. In der ersten Hälfte von 2023 habe ich mich wirklich gelangweilt. Ich konnte einfach nichts Gutes produzieren. Sobald ich im Studio war, bin ich quasi durchgedreht. Ich wollte einfach so viel wie möglich machen und mich richtig herausfordern. Ich denke, das kann man hören. Es liegt an der Energie, mit der ich die Instrumente spiele. Das Album geht überall hin, es gibt viele verschiedene Genres, mit denen ich herumspiele. In den letzten paar Jahren hat sich so viel verändert. Mein Musikgeschmack hat sich auch sehr verändert und weiterentwickelt. Ich bin auch einfach ein besserer Musiker geworden. 

Irgendwann wird uns gesagt, dass unsere Zeit vorbei ist. Alfie ist traurig. Er hätte noch stundenlang weitermachen können, sagt er. Als wir uns verabschieden, steht er in seinem gelben T-Shirt auf der Straße und winkt, bis wir außer Sichtweite sind. Es ist gut zu wissen, dass er Ende des Jahres wieder in Deutschland sein wird, um ein paar Konzerte zu spielen. Sonst wäre ich auch sehr traurig.

Alfie Templeman live:

29.11.2024 Köln, Luxor 

02.12.2024 Berlin, Cassiopeia 

03.12.2024 Hamburg, Molotow SkyBar 

www.alfietempleman.com