Interview mit Nathan Hill zu „Geister“

Nathan Hill_Michael LionstarNathan Hills Debütroman „Geister“ ist gerade frisch in Deutschland erschienen. Ein Buch, in dessen über 800 Seiten dicke Macht ich mich sofort verliebt habe. Als ich dann erfahren habe, dass Nathan im Rahmen seiner Lesereise auch nach Berlin kommen wird, verspürte ich das dringende Bedürfnis, mir den jungen Mann zu schnappen und mich mit ihm eine Runde über sein beeindruckendes Debütwerk zu unterhalten. Der Piper Verlag machte es großartiger Weise möglich, also lest ihr hier meine erste Konversation mit einem amerikanischen Bestseller Autor. Wenn ihr euch vorab ein Bild davon machen möchtet, worum es in „Geister“ geht und warum ich von dem Roman derart be“Geister“t (höhö) bin, könnt ihr das hier nachlesen.

Als ich hier angekommen bin, bin ich als erstes gefragt worden, ob ich dein Buch gelesen habe. Passiert das? Dass man einen Autor zum Interview trifft ohne sein Buch gelesen zu haben?

Oh, das passiert ständig. Viele sagen: ich habe ihr Buch nicht gelesen, aber ich habe viel darüber gelesen (lacht). Ich könnte mich darüber aufregen aber, ach, ich freue mich über jeden, der mit mir über das Buch reden möchte. Ich vergebe ihnen (lacht). Nein, im Ernst, ich habe große Sympathien für Bücherrezensenten. Und ich stelle mir vor, wenn sie ein Buch in der Post haben, das wie meines über 800 Seiten lang ist, dann schlagen sie wahrscheinlich mit dem Kopf auf die Tischplatte. Ich hoffe, sie haben am Ende wenigstens Spaß damit.

Ich hatte auf jeden Fall viel Spaß. Ich liebe es, wie du diese vielen Handlungsstränge auslegst und am Ende alle wieder zusammenführst.

Ich habe mir tatsächlich Sorgen gemacht, ob man sich an eine Figur am Ende noch erinnert, wenn sie über 200 Seiten nicht vorgekommen ist…

Ich finde so etwas wahnsinnig wichtig. Ich kann es wirklich nicht leiden, wenn man sich nicht die Mühe macht, seine Figuren zu Ende zu erzählen. Und dann habe ich gelesen, wie lang du an dem Buch gearbeitet hast.

Ja, ich habe zehn Jahre daran geschrieben und die erste Fassung war über 1000 Seiten lang. Es hat dann nochmal ein Jahr gedauert es zu redigieren.

Und dann sieht es von außen so aus, als würde da ein neuer Erfolgsautor quasi aus dem Nichts aufpoppen.

Richtig. Die komischste Beschreibung finde ich in dem Zusammenhang „Erfolg über Nacht“ (lacht). Ich bin sehr, sehr lange von Verlagen abgelehnt und ignoriert worden. Es war ein langer Prozess. Aber ich verstehe diese Wahrnehmung, weil all die Jahre niemand außerhalb meines Hauses je von mir gehört hat. Deshalb mag es sich für andere so anfühlen, als wäre ich über Nacht aus dem Nichts gekommen.

Wenn man so lange an etwas gearbeitet hat, ist es am Ende nicht wahnsinnig schwer los zu lassen und zu sagen, so, jetzt bin ich fertig?

Weißt du was… nein, war es nicht. Als ich endlich meinen Schluss hatte… ich war mit der Arbeit sehr zufrieden. Ich habe so viel von mir selbst, so viel Zeit und Energie in dieses Buch gesteckt. Ich wusste, zum derzeitigen Zeitpunkt ist es das Beste, was ich erschaffen konnte. Ich kann kein besseres Buch als dieses schreiben. Das hat sich sehr gut angefühlt.

Kein Gefühl der Leere, dass man seine Figuren, mit denen man sich so lange beschäftigt hat, jetzt ziehen lassen muss?

Nein. Ich habe schon wieder eine neue Idee, mit der ich auch schon angefangen habe. Jetzt fängt alles noch einmal von vorne an. Ich glaube ich war einfach nur sehr glücklich, sehr stolz. Und dass die Leute es offensichtlich mögen macht es mir nicht schwer, mich gut zu fühlen (lacht). Wenn die ganze Welt es ignoriert hätte oder alle es hassen würden, würde ich mich wahrscheinlich anders anhören.

Erzähl mir, womit hat alles angefangen? Was war der erste Ausgangspunkt für deine Geschichte?

Angefangen hat alles im Herbst 2004. Ich war gerade nach New York City gezogen. Während meines ersten Monats in der Stadt habe ich die Proteste gegen die Republican National Convention 2004 im Madison Square Garden miterlebt. George Bush würde seine zweite Amtszeit antreten, der Irak-Krieg war in vollem Gange und die Menschen sind auf die Straße gegangen, um gegen diese beiden Sachen zu protestieren. Ich bin hin und habe mir das angesehen. Am Ende dieses Monats bin ich aus meiner Übergangswohnung in ein Apartment in Queens gezogen. Ich musste am Morgen aus dem einen Apartment raus und konnte erst abends in das andere rein, also habe ich alle meine Sachen in mein Auto getan. In das Auto wurde eingebrochen und alles wurde gestohlen. Alles. Klamotten, Bücher und natürlich mein Computer. Auf dem Computer war alles, was ich in den vergangenen drei Jahren geschrieben hatte. Und alle Sicherheitskopien waren natürlich auch in dem Auto. Ein paar Geschichten hatte ich schon veröffentlicht, die konnte ich wieder abtippen. Aber alles andere war einfach weg. Nachdem ich etwas Geld gespart hatte um mir einen neuen Computer zu kaufen habe ich mit dem angefangen, was ich in letzter Zeit gesehen und miterlebt hatte, und das waren diese Proteste. Es gab damals einen Protestmarsch, bei dem die Menschen mit leeren Särgen auf den Schultern gelaufen sind, um den im Irakkrieg Gefallenen zu gedenken. Das war ein unglaublich starkes Bild.

Welches ja im Buch auftaucht.

Genau. Es hat sich natürlich in den folgenden zehn Jahren in viele unterschiedliche Richtungen entwickelt, aber das war das erste Bild, das damals entstanden ist.

Jetzt wirst du wahrscheinlich von denen, die „Geister“ gelesen haben ganz oft gefragt, ob du ein traumatisches Verhältnis zu deiner Mutter hast…

Ja, das kommt tatsächlich vor (lacht). Als ich meiner Mutter erzählt habe, dass ich ein Buch über eine schlechte Mutter schreibe meinte sie: Nathan, warum tust du das? (lacht) Meine Mutter ist überhaupt nicht so kalt, wie Faye in der Geschichte es zum Teil ist. Sie ist eine große Stütze für mich. Und sie hat mich nie verlassen. Aber: meine Mutter ist in einer kleinen Flußstadt in Iowa aufgewachsen. Viele der Details, die ich Faye gegeben habe, stammen von meiner Mutter. Bevor das Buch raus kam, habe ich es ihr zum lesen gegeben und gesagt: dir werden einige Sachen bekannt vorkommen, aber Faye ist nicht du. Sie ist eine Erfindung. Aber ich habe sie in viele reale Details eingebettet. Zum Glück hat sie es genau richtig aufgenommen und ist jetzt ein großer Fan.

In „Geister“ verknüpfst du die persönlichen Schicksale deiner Figuren mit realen geschichtlichen Ereignissen. Was würdest du sagen ist dir als Autor schwerer gefallen: den emotionalen, persönlichen Hintergrund deiner Figuren zu kreieren, für den du wahrscheinlich viel aus eigenen, dir selbst nah gehenden Begebenheiten geschöpft hast? Oder die geschichtlichen Ereignisse so wiederzugeben, dass sie ein realistisches Bild der damaligen Zeit wiedergeben?

Das ist eine sehr gute Frage. Beides ist eine Herausforderung. Wenn du etwas beschreibst, das du selber nicht erlebt hast, läufst du immer Gefahr, dich auf Klischees und Stereotypen zu verlassen. Die sechziger Jahre zum Beispiel. Als erstes denkt man an lange Haare, Schlaghosen und bauchfreie Oberteile. Wenn das das Bild ist, das du von den Sechzigern hast, wird deine Erzählung wahrscheinlich eher flach. Wenn du aber Dinge kreierst, für die du aus persönlichen Erlebnissen schöpfst, besteht wiederum die Gefahr, dass du nicht kreativ genug an die Sache ran gehst. Du schreibst so nah an der Realität, dass es auf dem Papier am Ende einfach tot wirkt. Beides ist eine Herausforderung. Ich muss sagen, es hat mir viel Spaß gemacht, den Teil über die 68er zu schreiben. Das war sehr viel Arbeit, ich habe über Jahre recherchiert, über Literatur, in Bibliotheken. Als ich dann das Gefühl hatte, ich könnte es wirklich hin kriegen, hat es viel Spaß gemacht. Aber es ist wirklich schwer über etwas zu schreiben, das man selber nicht erlebt hat. Es war auch eine große Erleichterung, als ich den Teil fertig hatte.

Im Nachwort schreibst du, dass du diese Zeit nicht selbst mit erlebt hast und keinen Anspruch auf geschichtliche Genauigkeit erhebst. Warum hast du dich entschieden, das explizit zu betonen?

Es gibt ein paar Dinge in dem Kapitel über die Studentenproteste in Chicago, die ich absichtlich geschichtlich inkorrekt gestaltet habe. Details über das Chicago Circle College 1968. Es gab zu der Zeit dort zum Beispiel noch keine Schlaftrakte, es war eine reine Tagesschule. Ich wollte aber dass Faye in einem Wohnheim lebt. Es gibt ein paar Settings, die es 1968 so noch nicht gab, aber sie waren perfekt für die Geschichte, also habe ich mir erlaubt, das so zu gestalten. Dann gibt es noch eine Passage, in der Alice einen rein weiblichen Protestmarsch anführt, der hat so auch nicht stattgefunden. Aber ich habe im Chicago History Museum einen Newsletter eines weiblichen Studentenkollektivs entdeckt, in dem sie versucht haben, diesen Marsch auf die Beine zu stellen. Der Wille war also da, es hat nur nie stattgefunden. Die Idee fand ich so großartig, dass ich beschlossen habe, es einfach passieren zu lassen. Ich habe mich entschieden, für die Dramatik ein bisschen mit der Geschichte zu spielen. Es gibt über diese Zeit sehr viele sehr gute, akkurate Schriften, die genau wiedergeben was damals passiert ist. Den Anspruch hatte ich für mich nicht, wer wissen möchte, was damals passiert ist, kann das sehr leicht erfahren, es ist ja alles zugänglich.

Aber hat man als Autor auch Zweifel daran, ob man so vorgehen kann? Oder fühlst du dich da künstlerisch völlig frei?

Nein, die hat man absolut. Den Mann aus South Dakota, der am Abend vor den Protesten von Polizisten erschossen wurde, den gab es zum Beispiel wirklich. Das so realistisch wie möglich zu erzählen, war mir sehr wichtig. Auch der Teil der Geschichte, der im Irak während des Krieges passiert – es gibt bestimmte Dinge, mit denen sollte man nicht herumspielen. Es sind wirklich kleine Details, mit denen ich mir erlaubt habe frei umzugehen. Sie betreffen nicht reale Personen, denen die Geschichte Schaden zugefügt hat.

Ich liebe ja diese unglaubliche Empathie, die du für deine Figuren aufbringst. Selbst für solche, bei denen es nicht offensichtlich ist. „Geister“ beginnt damit, wie eine Mutter ihren Sohn verlässt. Das Grausamste, was eine Mutter tun kann! Und trotzdem schaffst du es, dass man sich für sie interessiert und ihre Beweggründe erfahren möchte. Fällt es einem manchmal schwer als Autor, seine eigenen Figuren zu mögen?

Ich hoffe, das klingt jetzt nicht total kitschig nach Selbsthilfe, aber als ich mit dem Schreiben angefangen habe, ging es mir nicht so gut wie heute. Ich war neu in New York, habe kein Geld verdient, meine Arbeit wurde viel zurückgewiesen. Ich hatte furchtbare Angst davor, als Schriftsteller gescheitert zu sein. Zum Ende des Buches hin war ich glücklich verheiratet, habe an einem Ort gelebt, den ich mochte, ich mochte meinen Job. Es war egal, ob mein Buch veröffentlicht wird oder nicht, ich habe mich mit dem Schreiben an sich einfach wohlgefühlt. Ich war an einem ganz anderen Punkt in meinem Leben. Und ich fand es unaufrichtig, das in meinem Schreiben nicht zu reflektieren. Meine Figuren sollten die Chance haben den gleichen Weg zu gehen wie ich. Und wenn es am Ende für jeden von ihnen ein klein wenig Optimismus gibt, dann macht mich das sehr glücklich (lacht).

Viele von ihnen hätten ja durchaus Potential, am Ende unterzugehen.

Ja. Sie haben über Jahre hinweg zum Teil so schreckliche Entscheidungen gefällt. Aber ich hoffe, man versteht, warum sie diese Entscheidungen getroffen haben. Ich glaube, wenn man in seinem Leben in einer bestimmten Routine drin steckt, sieht man manche Dinge einfach nicht. Wie ein Fisch, der immer im Wasser schwimmt, der nimmt das Wasser auch nicht wahr. Das Ziel meiner Geschichte ist, den Figuren aufzuzeigen, dass es immer eine andere Möglichkeit gibt. Man kann im Leben immer Entscheidungen treffen, man muss nur den Mut haben die verschiedenen Wege zu sehen, die sich einem bieten.

Nathan Hill SignatureInterview: Gabi Rudolph

Foto: Michael Lionstar

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