Gelesen: Michael Chabon „Telegraph Avenue“

Michael Chabon Telegraph AvenueDer amerikanische Autor Michael Chabon ist das beste Beispiel dafür, wie nah die verschiedenen Künste beieinander liegen können. Seine Geschichten, seine Art zu schreiben haben einen Rhythmus, der sich fast wie Musik anfühlt. Nicht umsonst zählen sich viele Musiker zu seinen bekennenden Fans. Mark Ronson nennt Chabon als eine große Inspirationsquelle fürs Texten, sein Roman „Wonder Boys“ (2000 kongenial verfilmt von Curtis Hanson mit Michael Douglas und Tobey Maguire in den Hauptrollen) befindet sich auf der Liste von David Bowies 50 Lieblingsbüchern. Es ist schwer zu beschreiben, aber irgend etwas groovt regelrecht in Michael Chabons Worten. Die Poesie seiner Sprache erschließt sich dabei am besten im englischen Original. Die Übersetzung seines aktuell in Deutschland erschienenen Romans „Telegraph Avenue“ (übersetzt von Andrea Fischer) kommt zum Teil fast etwas zu ambitioniert daher. Dem Lesevergnügen tut das aber nur wenig bis gar keinen Abbruch.
Denn, Perfect Match, in „Telegraph Avenue“ schreibt Michael Chabon über Musik. Irgendwie, im weitesten Sinne, darüber, was sie mit einem macht, wie sie das Leben von Menschen beeinflusst. Musik zu lieben ist keine Entscheidung, es ist etwas Körperliches, dem man sich nicht mehr entziehen kann, wenn es einen einmal in der Hand hat. Vinyl wird in „Telegraph Avenue“ nahezu religiös verehrt. Die beiden Kumpel Nat und Archy haben ihre gesamte Existenz auf ihrem eigenen Plattenladen „Brokeland Records“ aufgebaut. Der ehemalige Frisiersalon ist ein Paradies für Liebhaber seltener Jazz- und Bluespressungen. Es wird viel abgehangen in Brokeland Records und über Musik und das Leben philosophiert, aber wie es nun mal so ist mit der Liebhaberei, sie trägt sich nicht von allein. Brokeland hat schon bessere Zeiten gesehen und jetzt soll auch noch einer direkt um die Ecke ziehen, der es mindestens genauso ernst meint und dabei ganz andere Mittel zur Verfügung hat. Football-Legende Gibson Goode plant, auf der Telegraph Avenue einen Ableger seiner Megastore Kette „Dogpile“ zu eröffnen. Und dort gibt es traditionell nicht nur den üblichen Megastore Mainstream Kram, sondern auch etwas, das Gibson Goode im Verlauf der Geschichte als „Kloster für Vinyl“ bezeichnet: eine komplette Etage mit einer riesigen Auswahl an Vinyl aus den Bereichen Soul, Jazz, Blues und Black Music. Boing. Es steht außer Frage, dass die Umsetzung dieses Vorhabens den bereits angeschlagenen Brokeland Records den Todesstoß versetzen würde.
Zum Glück geht es in „Telegraph Avenue“ aber nicht nur um Nerds, die über Vinyl fachsimpeln. Denn auch Aviva und Gwen, die Frauen von Nat und Archy, haben gemeinsam ihr eigenes Geschäft. Sie betreiben eine Hebammenpraxis und müssen sich mit den Problemen herumschlagen, die diese Zunft mit sich bringt. Problematische Hausgeburten, vorurteilsbehaftete Ärzte, Alltagsrassismus. Obendrein ist Gwen selbst hochschwanger und muss sich langsam der Frage stellen, wie sie auf die Dauer mit der notorischen Untreue ihres Mannes Archy umgehen will. Der wiederum wird plötzlich wieder vermehrt von einem ungeliebten Geist aus seiner Vergangenheit heim gesucht, dem ehemaligen Star der schwarzen B-Movie-Kung-Fu-Szene Luther Stallings. Währenddessen versucht Julie, der Sohn von Nat und Aviva, sich über seine eigene sexuelle Identität klar zu werden. Sein Objekt der Begierde ist der gleichaltrige Titus, der entpuppt sich auch noch als Archys Sohn aus einer vergangenen Beziehung. Wie will man da noch den Überblick über das persönliche Chaos bewahren! Es gilt ja auch noch Dinge wie den Kampf gegen einen korrupten Stadtrat und die Beerdigung einer Jazzlegende in den Räumen von Brokeland zu bewältigen.
Klingt alles ganz schön viel, ist es auch. In „Telegraph Avenue“ springt einen auf jeder der über 600 Seiten das pralle Leben ins Gesicht. Michael Chabon beschreibt hintergründig, detailverliebt und mit viel Humor, wie das Leben so seine Haken schlägt. Geradlinig ist auf jeden Fall was anderes. Denn auch Menschen, die die klassische Zeit der Selbstfindung, die zwischen zwanzig und dreißig, bereits hinter sich gelassen haben, die augenscheinlich etabliert sind mit Familie, Job und eigenem Business, müssen manchmal erkennen, dass sie einen anderen Weg einschlagen müssen, um nicht in einer Lebenssackgasse zu landen. Das kann mindestens genauso schmerzhaft sein wie die Auseinandersetzung eines Teenagers mit dem Erwachen seiner Sexualität. Michael Chabon nimmt alle seine Figuren gleichermaßen ernst, so verstockt und bockig sie manchmal sein mögen und lässt sie sanft ihren eigenen Weg finden, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Und über all dem liegt dieses Summen, als würde dieser Roman singen, wenn man seine Seiten umblättert. Ein Rhythmus, ein Herzschlag. Wunderbar.

Info: „Telegraph Avenue“ ist der vorletzte Roman des amerikanischen Schriftstellers Michael Chabon und 2014 erstmals auf Deutsch erschienen. Seit 2016 ist er im Rowohlt Verlag als Taschenbuch erhältlich und kann hier käuflich erworben werden.

Gelesen von: Gabi Rudolph

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