Gelesen: Lize Spit „Und es schmilzt“

Es ist schwer zu übersehen, dass „Und es schmilzt“, der Debütroman der flämischen Autorin Lize Spit, seit seinem Erscheinen für einiges an Furore sorgt. Schon auf dem Buchumschlag drängen sich die Lorbeeren ungewöhnlich dicht an dicht. „Ergreifend“, heißt es da, „Eine literarische Sensation!“ und „Übertrifft alle Erwartungen“. Das kann schon fast hinderlich sein, wenn man sich an die Lektüre macht. Wenn man das jetzt nicht gut findet, stimmt dann mit einem was nicht?

Vorab sei verraten, „Und es schmilzt“ ist durchaus ein gutes Buch. Es ist aber auch eines von denen, die es einem trotzdem schwer machen, sie zu mögen. Von seiner Rezeption und auch von seiner Struktur her erinnert es ein wenig an die Filme von Lars von Trier. Sie entwickeln einen ähnlichen Sog, der einen über weite Strecken nahezu euphorisch macht. Gleichzeitig weiß man auch bald, dass die Geschichte nicht gut enden wird. Und trotzdem guckt man wie hypnotisiert weiter. Wie eine besonders verführerische Köstlichkeit, die man maßlos verschlingt, obwohl man genau weiß, dass einem am Ende doch nur schlecht wird.

Lize Spit gelingt es, von Anfang an eine starke Atmosphäre aufzubauen. Ein drückendes Grau liegt über der Geschichte einer Kindheit in einem flämischen Dorf. Erzählerin Eva lebt dort mit ihren Eltern, ihrem Bruder Jolan und ihrer Schwester Tesje. Der Vater ist depressiv, gleich zu Anfang erklärt er seiner Tochter, wie man eine Schlinge korrekt knüpft und befestigt, wenn man vorhat sich zu erhängen. Die Schlinge bleibt im Arbeitsschuppen hängen, ihr wird in dieser Geschichte noch eine symbolische Bedeutung zuteil. Die Mutter ist Alkoholikerin, der Bruder hätte eigentlich ein Zwilling sein sollen, seine zweite Hälfte starb bei der Geburt. Die Jüngste, Tesje, leidet an Zwangs- und Essstörungen. Diese Familie ist ein trostloser Ort, und Lize Spit findet starke Bilder für die Düsterheit, die in ihr herrscht. Das Haus, in dem der Parkettboden dauerhaft mit Pappkarton abgeklebt ist, obwohl niemand weiß, wofür man ihn aufsparen will. Der Arbeitsschuppen, wo der Schimmelpilz die Wände frisst und die Schlinge an der Decke schaukelt. Zum größten Grauen stilisiert sie die Weihnachtsabende. Das eigentliche Fest der Idylle verkommt von Jahr zu Jahr mehr zum Drama. Einmal ist die Mutter so betrunken, dass der Vater sie zwingt, neben dem Hund auf dem Boden zu essen.

Eva sucht Halt und Ablenkung bei ihren Schulfreunden Pim und Laurens. Gemeinsam sind sie die drei Musketiere, die einzigen Mitglieder eines geburtenschwachen Jahrgangs, der in der Schule den regulären Klassen beigestellt wird. Aber in dem Sommer, um den es geht, entwickelt die Freundschaft der Pubertierenden seltsame Dynamiken. Pim und Laurens haben eine Tabelle erstellt, in der die Mädchen im Dorf Punktnoten für ihr Aussehen erhalten. Ein Spiel soll die Punktevergabe festigen: Eva wird zur Spielleiterin erkoren und stellt dem jeweiligen Mädchen ein Rätsel, für jeden vergeblichen Lösungsversuch muss es vor Pim und Laurens ein Kleidungsstück ablegen.

Jahre später ist Eva erwachsen und lebt in Brüssel. Per Facebook erhält sie die Einladung zu einer Feier in der Heimat. Es soll gleichzeitig Pims verstorbenem Bruder Jan gedacht und eine neue Melkmaschine eingeweiht werden. Eva macht sich auf den Weg nach Hause, im Kofferraum ihres Autos einen großen Eisblock. Nach und nach entfaltet sich die Geschichte jenes schicksalhaften Sommers, in dem das Spiel außer Kontrolle geriet und Evas Leben sich für immer änderte.

Lize Spit lässt sich viel Zeit, die Geheimnisse ihrer Protagonisten zu entfalten. Das macht „Und es schmilzt“ zuerst etwas langatmig, im gesamten tut diese anfängliche Ruhe der Geschichte jedoch gut. Dass hier schlimme Dinge geschehen werden, schwingt stets mit, manche Fährte wirkt dabei wie zufällig ausgeworfen, aber Lize Spit hält die Fäden fest in der Hand und fügt sie zum Ende gewissenhaft zusammen. Stilistisch ist sie dabei äußerst konsequent. Sowohl was die Beschreibung der trostlosen Szenerie angeht als auch die der sich Bahn brechenden Gewalt, schont sie ihre Leser nicht. Die Ruhe, mit der sie dabei vorgeht, verhindert, das der Voyeurismus in ihren Schilderungen überhand nimmt.

Auch wenn das, was sich in „Und es schmilzt“ ereignet schwer zu fassen und manchmal sogar kaum zu glauben ist, ist die Grundproblematik, um die es hier geht, aktueller denn je. Abstumpfung, Empathielosigkeit, Sprachlosigkeit, Kinder, die von ihrer Umwelt nicht aufgefangen werden und die Gabe, Mitgefühl zu empfinden verlernen. Wie stark in einem emotionslosen Umfeld der Drang nach Akzeptanz werden kann, was der Mensch in der Lage ist zu ertragen, wenn er einfach nur gesehen werden möchte. Wie unmöglich es sein kann, Grenzen zu ziehen.

Strukturiert ist die Geschichte nahezu meisterhaft, mühelos springt Lize Spit zwischen Zeiten und Ereignissen. Aber manchmal lässt gerade dies einen auf Abstand gehen. Es schleicht sich mitunter die Vermutung ein, ob das hier vielleicht alles nur großes Kalkül ist, Geschichten erzählen nach dem Lehrbuch. Mitunter kommt „Und es schmilzt“ in seiner Meisterhaftigkeit etwas großspurig daher. Und wenn sich die erste Aufregung nach dem Lesen gelegt hat, offenbart es auch ganz klare Schwächen. So ist zum Beispiel die Figur des Nachbarmädchen Elisa, dem am Ende eine entscheidende Bedeutung zukommt, zu wenig greifbar, ihre Motivation bleibt im Dunkeln.

Das ändert alles aber nichts daran, dass „Und es schmilzt“ ein hypnotisches Leseerlebnis ist, an dem die Geister sich stets scheiden werden. Und das ist gut so. Man muss dieses Buch nicht mögen, aber es ist nahezu unmöglich, dass es einem egal ist.

Info: Lize Spit wuchs in einem kleinen Dorf in Flandern auf und lebt heute in Brüssel. Ihr Debütroman „Und es schmilzt“ gewann zahlreiche Preise, unter anderem den Preis des niederländischen Buchhandels für den besten Roman des Jahres 2016. Er ist im Fischer Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden. 

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