Gelesen: Emily St. John Mandel „Das Licht der letzten Tage“

Die kanadische Autorin Emily St. John Mandel entwirft in ihrem vierten Roman „Das Licht der letzten Tage“ eine apokalyptische Vision – düster, traurig, aber auch hoffnungsvoll und berührend poetisch.

Emily St John Mandel Das Licht der letzten TageEs beginnt mit einer Theaterinszenierung von Shakespeares „König Lear“. Während eines seiner Monologe als König Lear bricht der berühmte Schauspieler Arthur Leander zusammen und stirbt an einem Herzinfarkt. Was keiner der Anwesenden in diesem tragischen Moment ahnt ist, dass nur wenige Tage später fast jeder von ihnen ebenfalls tot sein wird. Die „Georgische Grippe“ erreicht mit einem Flieger aus Moskau Nordamerika. Ein aggressiver, unausweichlich tödlicher Virus. Die Krankenhäuser sind überfüllt, Flughäfen werden geschlossen, die Infrastrukturen brechen zusammen. Fernsehen, Radio, elektrischer Strom – innerhalb weniger Wochen gehört alles, was unsere Zivilisation heute ausmacht, der Vergangenheit an. Eine neue Zeitrechnung beginnt, die wenigen übrig gebliebenen fangen an, ihr Überlegen zu sichern.
20 Jahre nach dieser Stunde Null ist einer noch so lebendig wie damals: Shakespeare. Die Fahrende Symphonie, ein Zusammenschluss von Musikern und Schauspielern, zieht mit einer von Pferden gezogenen Karawane durch die unwirtliche Landschaft, um den noch vorhandenen Siedlungen Zerstreuung und Ablenkung vom schwierigen Alltag in Form von Musik und der Aufführung von Shakespeares Stücken zu bringen, mit den wenigen begrenzten Mitteln, die ihnen dabei zur Verfügung stehen. Mit dabei ist Kirsten, eine leidenschaftliche Schauspielerin, die schon als Kind auf der Bühne stand – zuletzt in jener letzten Aufführung mit Arthur Leander, dem aus Toronto stammenden Hollywoodstar. Mit ihm verbindet sie ihre wenigen lebendigen Erinnerungen von der Zeit vor dem Zusammenbruch.
Auch wenn inzwischen weniger Aufruhr und Aggression als kurz nach dem Zivilisationsende herrschen, ist die verbleibende Menschheit immer noch auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Diese treibt mitunter seltsame Blüten. In einer der Siedlungen, die die Fahrende Symphonie bereits zum zweiten Mal besucht, hat ein selbsternannter Prophet sich der Führung des Ortes bemächtigt. Er beansprucht junge Mädchen als seine Frauen, mit der Absicht, die Welt mit seinen Nachkommen zu bevölkern. Eines jener Mädchen versteckt sich in den Wagen der Symphonie und verlässt mit ihnen die Stadt. Die Mitglieder der Gruppe ahnen, dass sie dadurch den Zorn des Propheten auf sich gezogen haben. Sie machen sich auf den Weg zum Severn City Airport in Michigan, wo den Erzählungen nach eine größere Gruppe Menschen leben soll und wo man hofft, Zuflucht zu finden.
Emily St. John Mandel entwirft eine Zukunftsvision, die düster und unheimlich, aber nicht durchweg pessimistisch ist. Dass das funktioniert liegt daran, dass sie ihre Figuren sowohl in der neuen Zeit als auch in ihrer Vergangenheit intensiv lebendig werden lässt. Kunstvoll verwebt sie die Geschichten derer, die zu den Überlebenden gehören mit denen jener, die es nicht geschafft haben und trotzdem noch da sind – in Erinnerungen, in Geschichten, in ihrer Bedeutung, die sie für die Überlebenden immer noch haben. Eine zentrale Figur ist dabei die des Schauspielers Arthur Leander und seiner drei Ehefrauen, er spielt auch noch zwanzig Jahre nach seinem Tod eine entscheidende Rolle. Emily St. John Mandel gibt allen ihren Figuren ein Gesicht und strickt ihre Geschichte klug und logisch, sodass aus allem ein schlüssiges großes Ganzes wird. Vor allem tut sie es mit viel Empathie, die Schicksale ihrer Protagonisten erreichen einen alle auf gleiche Weise.
So finster das Thema auch sein mag, ich habe ja ein heimliches Faible für Endzeitromane. Es ist schlichtweg ein faszinierendes Thema, auf was für wackeligen Beinen unsere ach so fortschrittliche Zivilisation eigentlich steht und wie wenig es bedarf, sie komplett zum Einsturz zu bringen. Emily St. John Mandels „Das Licht der letzten Tage“ ist eine eher optimistische und poetische Vertretung der Gattung, gleichzeitig auch schockierender als manch anderer. Erst diese Woche erklärte ein Artikel bei Spiegel Online, dass der Ausbruch einer Pandemie die größte und realistischste Bedrohung für unsere Menschheit sei, weil wir gegen sie viel schlechter gewappnet sind als gegen Kriege und nukleare Angriffe.
Am Ende sieht Kirsten durch ein Teleskop in der Ferne Lichter leuchten. Es ist dieser Hoffnungsfunke, der „Das Licht der letzten Tage“ so besonders macht. Denn neben ihrer Verletzlichkeit ist es auch das, was unsere Menschheit ausmacht: der Wille, wieder aufzustehen. Daran zu glauben ist essentiell und tröstlich.

Info: „Das Licht der letzten Tage“ von Emily St. John Mandel ist 2015 in deutscher Übersetzung im Piper Verlag erschienen und jetzt auch als Taschenbuch erhältlich. Er kann hier käuflich erworben werden.  

Gelesen von: Gabi Rudolph

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