Gelesen: Deborah Levy „Heiße Milch“

Eine Mutter und ihre erwachsene Tochter in einem Strandhaus an der Südküste Spaniens. Ein Student, der an der Erste-Hilfe-Station am Strand jobbt. Eine junge Frau aus Berlin, die Vintage Kleider für einen Laden im Ort umnäht. In Deborah Levys neuem Roman „Heiße Milch“ treffen sie aufeinander. Die Beziehung zwischen Mutter Rose und Sofia, der Tochter, ist zu eng, es ist Zeit sich frei zu schwimmen. Aber wie soll das gehen, wenn das Meer voller giftiger Quallen ist, die gleich zu Beginn zubeißen?
Die flirrende Hitze, die erdrückende Enge zwischen zwei Menschen, Hypochondrie, neue erotische Impulse – das könnte Stoff sein für eine Coming-of-Age Geschichte, in der die exotische Umgebung eine befreiende Rolle spielt. Aber genau das Gegenteil ist in „Heiße Milch“ der Fall. Das Meer ist voller Quallen, die Tauchschule am Strand, auf deren Dach den ganzen Tag der angekettete Hund des Besitzers bellt ein eher unwirtlicher Ort. Sofias gleichgeschlechtliches Love-Interest Ingrid scheint die ganze Zeit wenig greifbar, noch nicht einmal besonders sympathisch. Es gibt hier keine Befreiung, keine Erlösung. Die Hitze bleibt drückend und selbst das Meer droht mit Verbrennungen, statt Entspannung und Kühlung zu liefern.
Es geht damit los, dass schon der Grund für den Aufenthalt von Mutter und Tochter kein positiver ist, sie sind nicht gekommen um Urlaub zu machen. Sofias Mutter Rose leidet an Lähmungserscheinungen in den Beinen, für die noch kein Arzt eine fundierte medizinische Erklärung gefunden hat. Rose ist an den Rollstuhl gefesselt, Sofia an Rose. Die Privatklinik des Dr. Gómez soll endlich die rettende Diagnose bringen. Die Klinik wirkt erst einmal wie eine Oase, aber auch sie ist ein eher seltsamer Ort. Der Orthopäde trägt Nadelstreifenanzug und Schneidezähne aus Gold, die Schwester, seine Tochter, nennt er „Schwester Sonnenschein“. So mysteriös Rose’ Symptome sind, so mysteriös sind Dr Gómez‘ Heilungsversuche. Rose würde ihre Beine am liebsten komplett los werden. Sofia würde manchmal am liebsten Rose los werden. Sie flüchtet in die Arme des Studenten, in die von Ingrid und zwischendrin sogar zu ihrem leiblichen Vater nach Griechenland, der vor kurzem noch einmal Vater geworden ist. Auch hier ist die vorherrschende Stimmung Irritation und drückende Hitze, in dem Zimmer, in dem Sofia schläft, gibt es noch nicht einmal ein Fenster. Und selbst Zuhause in England wartet keine befriedigende Lösung. Eigentlich studiert Sofia Anthropologie, hauptsächlich arbeitet sie als Barista in einem Café in London, wo sie auch im Hinterzimmer wohnt. Es muss also etwas passieren. Die Liebe, das Leben oder zumindest ein Quallenbiss.
Es gibt keine Comfort Zone in Deborah Levy für den Man Booker Prize nominierten Roman. Man möchte sich mit der Protagonistin verbinden, mit ihr fühlen, aber überall eckt man an. Die beruhigende Wirkung einer heißen Milch sucht man hier vergebens. Das Unbequeme ist aber auch gerade das Faszinierende an „Heiße Milch“. Die Handlung zieht sich dahin wie Tage in der sengenden Hitze, es geht mehr um Zustände, um Innerlichkeiten, um Begehren, aber nichts davon findet eine befriedigende Auflösung. Stattdessen arbeitet Deborah Levy mit Bildern, die mal mehr, mal weniger offensichtlich sind (der zersprungene Bildschirm von Sofias Laptop gehört dabei zu den offensichtlicheren). Ganz zum Schluss kommt sie auf, eine leichte Brise, die sich zum Wind des Wandels zusammen brauen wird, aber auch dieser ist mit Schmerz verknüpft. Ein wahrlich bissiger Roman, der es nicht darauf anlegt zu gefallen. Der aber gerade deshalb umso mehr medusenhaft betörend ist.

Info: „Heiße Milch“ ist nach „Heim schwimmen“ der zweite Roman der in Großbritannien lebenden Schriftstellerin Deborah Levy, der es auf die Shortlist für den renommierten Man Booker Prize geschafft hat. Er ist in deutscher Übersetzung bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Eine Leseprobe gibt es hier. 

Gelesen von: Gabi Rudolph

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