Gauthier Dance mit „Nijinski“ in Berlin: Die Ästhetik des Wahnsinns

Ein Genre wie das Ballett heutzutage noch zu revolutionieren, ist ein schwieriges bis unmögliches Unterfangen. Ein Körper ist letztendlich ein Körper, das was man mit ihm machen kann, ist schon mal rein physisch begrenzt. Der israelische Choreograph Hofesh Shechter zum Beispiel gehört zu den Vertretern des modernen Tanzes, die einem mit ihren Arbeiten das seltene Gefühl geben, etwas noch nicht da gewesenes zu erleben. Und, den meisten ganz weit voran, Marco Goecke, der seit seiner Premiere als Choreograph im Jahr 2000 am Theater Hagen über 40 Werke geschaffen hat, die zum Teil von Kompanien auf der ganzen Welt aufgeführt werden. Marco Goeckes Choreografien tragen eine ganz eigene ästhetische Handschrift, sie sind aufwühlend und klassisch schön gleichermaßen.
Für Gauthier Dance, die Dance Company des Theaterhaus Stuttgart unter der Leitung von Eric Gauthier, schuf Marco Goecke 2016 „Nijinski“, ein abendfüllendes Ballett, das aus dem Leben des russischen Tänzers und Choreographen Waslaw Nijinski erzählt, von dessem Werdegang zu einem der größten Tänzer der Ballets Russes bis zur Erkrankung an Schizophrenie. Die Produktion wurde nicht nur am Theaterhaus Stuttgart aufgeführt, sondern auch auf Tour, unter anderem in Tel Aviv, New York, Moskau, St. Petersburg und jetzt zuletzt, in den Berliner Festspielen. In Berlin zu spielen sei ein besonders großer Wunsch gewesen, erzählt Kompanieleiter Eric Gauthier vor Beginn des Stücks. Charmant (in lockerer erster Position) gibt er eine kleine inhaltliche Einführung in den Ablauf des Abends, die hilfreich ist, um die Rahmenhandlung der einzelnen Teile zu verstehen, letztendlich aber auch nicht zwingend nötig ist. Zu verstehen worum es geht ist gar nicht wirklich nötig, um sich in Marco Goeckes Choreografie zu verlieren.
Charakteristisch sind bei ihm stets die expressiv eingesetzten Gliedmaßen, mit einem starken Fokus auf die Armarbeit. Manchmal rotieren sie windmühlenartig, mit derartiger Wucht, dass man fürchtet, die Arme könnten sich vom Rumpf lösen. Dann ist es wieder nur ein einzelner Finger, der die Bewegung vorgibt, bevor der Rest des Körpers sie übernimmt. Ein zartes Flattern wird zur ganzkörperlichen Explosion. Die Tänzer der Gauthier Dance Company haben Goeckes Technik in absoluter Perfektion verinnerlicht, ein kongeniales Match ergeben hier Konzept und Umsetzung. Man darf dabei nicht glauben, dass Moderne für Freiheit steht, im Gegenteil, Goeckes Bewegungsabläufe erfordern absolute tänzerische Akribie. Sobald mehr als zwei Tänzer sie synchron ausführen, hat das eine nahezu hypnotische Wirkung. Und was sind sie synchron, die Tänzer an diesem Abend!
Aber alle Konstellationen haben hier gleichermaßen ihren Reiz. Der Pas de Deux, der für Nijinskis sexuelles Erwachen ist schräg und sinnlich gleichermaßen. Und was Solist Rosario Guerra als Vaslav Nijinski leistet, erscheint einem fast schon an der Grenze zum körperlich Machbaren. Man gönnt ihm regelrecht die Pausen zwischen seinen Auftritten, auch wenn man sich kaum satt sehen kann an dem was er macht. Wie er die Wage zwischen Technik und Emotion hält, ohne dass je eine der beiden Komponenten zu kurz kommt, ist schlichtweg außergewöhnlich.
Das schlichte Bühnenbild und die zurückhaltenden, aber extrem geschmackvollen Kostüme von Michaela Springer tragen einen wichtigen Teil zu diesem besonderen Abend bei. Die Kostüme legen den Fokus unterstützend auf die Tänzerkörper, ohne von der Bewegung abzulenken. Denn deren Schönheit steht ganz für sich allein: Marco Goeckes Choreografie ist eigen, tatsächlich, auch wenn es abgeschmackt klingen mag, modern und gleichzeitig berauschend ästhetisch. Auch musikalisch setzt „Nijinski“ mit Stücken von Debussy, Chopin auf pure Schönheit. Dass das Ensemble der Tänzer von Gauthier Dance nicht nur perfekt ausgebildet, sondern auch besonders charismatisch ist, setzt dem Ganzen die Krone auf.
Entsprechend wird der Abend auch vom Berliner Publikum gefeiert. Besonders die Solisten Rosario Guerra als Nijinski, Garazi Perez Oloriz als Terpsichore, die göttliche Muse des Tanzes und David Rodriguez als tyrannischer Impresario Diaghilev werden mit frenetischem Applaus bedacht. Alles andere wäre aber auch eine Frechheit gewesen.

Fotos: Regina Brocke

www.gauthierdance.com