Das pralle Leben mit MIA.

Der Beginn einer (musikalischen) Romanze

Es war vor etwas mehr als zehn Jahren, im Sommer 2002, als ein Job mich nach Leipzig verschlug. Am letzten Abend erzählte ein Kollege aus dem Team mir, er habe zufällig einen Bekannten auf der Straße getroffen, der ihm Gästeliste für ein Konzert an jenem Abend angeboten hat. Es handelte sich um die zu der Zeit noch aufstrebende Band MIA., und er fragte mich, ob ich ihn begleiten wolle.  Ich weiß noch es war gen Ende des Konzerts, während der Nummer „Kill For You“, als jener junge Mann kaum merklich näher an mich heranrückte. Nach dem Konzert fragte er mich, weniger diskret, ob ich Interesse an einem Kuss hätte.
Ich bin kein großer Anhänger der sogenannten If-World und vermeide es deshalb eher, mir Gedanken darüber zu machen, wie mein Leben weiter verlaufen wäre, wenn ich damals nicht ja gesagt hätte. Wahrscheinlich wäre ich auch so noch zu dem einen oder anderen MIA. Konzert gegangen, denn es war ein gutes Konzert und schon in jenem Keller in Leipzig zeigte sich deutlich, dass die Band Potential für den großen Durchbruch hat. Trotzdem ist es sehr wahrscheinlich, dass, hätte ich jenes neckische Angebot damals nicht angenommen, meine Begleitung an diesem Wochenende nicht unsere sieben Jahre alte Tochter gewesen wäre, für die das große MIA. Heimspiel in der Berliner Max Schmelig Halle das erste richtige Popkonzert wurde.

Nena und Michael Jackson

Musik spielt seit meinem sechsten Lebensjahr eine große, wenn nicht eine der größten Rollen in meinem Leben. Es waren Nenas „99 Luftballons“, die bei mir den Startschuss gaben (31 Jahre später hegt meine Tochter übrigens eine ähnliche Bewunderung für Nena – ist das nicht der Wahnsinn? Aber das nur am Rande). Mein erstes Konzert war Michael Jackson während seiner „Bad“-Tour im Münchner Olympiastadion. Wikipedia verrät mir heute, dass das am 8. Juli 1987 vor 72.000 Zuschauern stattgefunden hat, und ich kriege immer noch Gänsehaut, wenn ich diese Zahlen lese. Ich wette, jeder Musikfreak kann sich an sein erstes Konzert erinnern. Es ist ein einschneidendes Erlebnis und ich behaupte, dass man es niemals vergisst. Ich weiß noch genau, wie heiß es an jenem Tag im Sommer 1987 war, ich sehe immer noch tausende von Feuerzeugen vor mir, und auch ohne Wikipedia hätte ich heute noch gewusst, dass das Konzert mit „Wanna Be Startin‘ Somethin‘“ eröffnet wurde.
Meine Tochter teilt meine Leidenschaft für Musik, zeigt viel Interesse für meine Arbeit und stets Verständnis dafür, wenn ich abends aus dem Haus gehe, um auf Konzerte zu gehen. Dieses Jahr hat sie mich oft gefragt, ob sie mich nicht einmal begleiten könne. Ich fand, dass das erste Konzert meiner Tochter mit Bedacht gewählt werden sollte, um ihr ein möglichst beeindruckendes Erlebnis zu bescheren. MIA. kristallisierten sich hierfür aus diversen Gründen als die erste Wahl heraus: Ihr Vater und ich sind uns zu MIA. das erste Mal nah gekommen, als Baby ist sie regelmäßig zu den Takten von „Tanz der Moleküle“ eingeschlafen, und in diesem Jahr wurde „Fallschirm“ einer ihrer absoluten Lieblingssongs.

Grande Dame, Artistin, Rockstar

Hinzu kommt auch – und das wird an diesem Abend in Berlin besonders deutlich – dass MIA. sich von einer ehrgeizigen Nachwuchsband zu einem Showact für die ganze Familie entwickelt haben. Und ich meine das im besten Sinne! Mieze Katz, die vor zehn Jahren in jenem Keller in Leipzig mit ihren zerrissenen Strumpfhosen und ihren abgefressenen, bunt gesträhnten Haaren eher noch wie ein Teenager wirkte, der sich den Frust aus dem Leib singt, hat sich zu einer Grand Dame des Pop gemausert, die die größte Headliner-Show in der Karriere von MIA. (rund 9.000 Zuschauer) mühelos auf den Schultern trägt. Mit Charme und Humor, diversen Kostümwechseln und sogar Akrobatikeinlagen – Mieze hat ihre Band im Griff und wickelt ihr Publikum mühelos um den Finger. Dabei kann sie sich auf ihr souveränes Organ verlassen und nicht zuletzt auf die Songs von MIA. Denn die sind über die Jahre zu einem Generationen-übergreifenden Sprachrohr geworden, ohne dabei in Klischees und Abgedroschenheiten zu baden. So freut sich das Pärchen neben uns, als Mieze verkündet: „Älter werden heißt eigentlich wachsen“. Genauso weiß meine Tochter was Mieze meint wenn sie singt: „Weil ich so gerne heul und um mich beiße, weil ich so gerne alles um mich schmeiße…“ Und wer hat schon einmal so einen schönen „Hoffnungschor“ vernommen?

Kurz vor der Zugabe legt meine Tochter ihren Kopf in meinen Schoß und schließt ermattet die Augen. Davor hat sie getanzt, gesungen, geklatscht und mit den Armen gewedelt. Schwer zu sagen, für wen von uns beiden dieser Abend unvergesslicher war. Inzwischen habe ich erfahren, dass im Management von MIA. quasi täglich E-Mails mit ähnlichem Inhalt eintrudeln: „Wir haben zu ‚Tanz der Moleküle/Hungriges Herz‘ uns kennengelernt/geheiratet/zum ersten Mal geküsst/ein Kind gezeugt…“ Ich reihe mich also nahtlos ein in die Schlangen der Dankenden. Vielen Dank MIA., dass ihr meiner Tochter so ein glückliches, prägendes Erlebnis beschert habt. Und dafür, dass Eure Musik wie das Leben ist: mal laut, mal leise, mal fröhlich, mal traurig, aber immer bunt, prall und vor Überraschungen berstend.

Von: Gabi Rudolph

Fotos: H. Flug
Live Foto: Dusk