Berlinale 2018 Filmhighlights: „Utøya 22. juli“, „Das schweigende Klassenzimmer“, „Genezis“

„Utøya 22. juli“ von Erik Poppe

Am 22. Juli 2011 erschütterte einer der schlimmsten Terroranschläge der jüngeren Geschichte das Land Norwegen. Der rechtsextremistische Attentäter Anders Breivik zündete in der Innenstadt von Oslo eine Autobombe, wenige Stunden später eröffnete er in einem Jugendferienlager auf der Insel Utøya, verkleidet als Polizist, das Feuer auf Kinder, Jugendliche und Betreuer. Die Attacke dauerte 72 Minuten, 69 Menschen verloren ihr Leben. Der norwegische Regisseur Erik Poppe zeigt in Echtzeit und in einer einzigen Kameraeinstellung in „Utøya 22. juli“ das schier Unglaubliche: Jugendliche, die um ihr Leben rennen. Die sich in den Wäldern und den Klippen der Insel verstecken, über die toten Körper anderer Kinder stolpern, die lange überhaupt nicht glauben können, was gerade mit ihnen geschieht. Dabei konzentriert er sich ausschließlich auf die Opfer, der Angreifer ist nur zum Ende des Films in einer kurzen Einstellungen verschwommen in der Ferne zu sehen. 72 Minuten lang ist man als Zuschauer mit der nackten Angst konfrontiert. Die Unmittelbarkeit des Films ist schwer zu ertragen, gerade weil Erik Poppe sich nicht in reißerischen Bildern verzettelt. Die meiste Zeit hört man nur die Schüsse, die brutale Gewalt spielt sich fast ausschließlich außerhalb des Bildes ab. Stattdessen ist man den ganzen Film untrennbar an die Protagonisten gekettet.
Die Frage ist, ob man sich diesen schmerzhaften Film überhaupt ansehen kann. Man sollte, und Regisseur Erik Poppe erklärt in der anschließenden Pressekonferenz zum Film auch warum: In seinen Gesprächen mit Überlebenden von der Insel Utøya musste er feststellen, dass die Erinnerung an die Geschehnisse anfängt zu verblassen. Die filmische Verarbeitung der Ereignisse vom 22. Juli ist eine dringliche Erinnerung daran, wohin Rechtsextremismus, wohin purer Hass führen kann. Es gibt Dinge, die nicht vergessen werden dürfen. In der heutigen Zeit, in der Ignoranz und Vergessen von rechtsgelagerten Gruppen wieder stärker denn je propagiert werden, ist „Utøya 22. juli“ ein Zeitdokument – und ganz davon abgesehen, so schrecklich es klingen mag, rein filmisch gesehen ein Meisterwerk. Die Umsetzung der One-Shot-Sequenz ist absolut perfekt, die Darsteller sind grandios. Drei Überlebende haben an der Entstehung des Films mitgearbeitet und sind auch bei der Pressekonferenz anwesend. Alle Anwesenden strahlen großen Respekt füreinander aus und einen gerechtfertigten Stolz auf das, was sie miteinander geschaffen haben. „Utøya 22. juli“ ist in vielerlei Hinsicht ein starker Anwärter auf den Bären. Ein wichtiger Film, der einen zu tiefst trifft und lange nachhallt.

Sektion: Wettbewerb
Gesehen von: Gabi Rudolph

„Das schweigende Klassenzimmer“ von Lars Kraume

1956, elf Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs herrscht in Berlin immer noch eine prekäre Situation. Die Hauptstadt wurde 1945 von den Siegermächten England, Frankreich, USA und der Sowjetunion separat aufgeteilt, Überfahrten vom Osten in den Westen sind zwar noch erlaubt, aber nur mit triftigem Grund. Als sich Kurt und Theo eines Tages in ein Kino im Osten schleichen und vom Aufstand in Budapest erfahren, der gewaltsam von den sowjetischen Truppen niedergeschlagen wird, sind sie geschockt. Am nächsten Tag wird mit den Mitschülern in Stalinstadt diskutiert, eine Schweigeminute für die Gefallenen ungarischen Freiheitskämpfer abzuhalten. Die Klasse entscheidet sich mit knapper Mehrheit dafür, ohne die Auswirkungen ihres politischen Statements auch nur im Ansatz zu ahnen. Denn mit ihrer als konterevolutionärer Akt bezeichneter, zuerst harmlos-erscheinender Provokation bringen sie folgenschwere Ermittlungen in Gang. Sind die Schüler bereit sich gegenseitig zu eigenen Gunsten zu verraten und stehen sie auch weiterhin für ihre politischen Werte ein, wenn es ernst wird?
Lars Kraume beleuchtet mit „Das schweigende Klassenzimmer“ ein sozialistisches System, das nicht vor perfider Bekämpfung von politischen Gegnern zurück schreckt und die Menschen zum Eingliedern zwingt. Die Geschichte von Theo (Leonard Scheicher), Kurt (Tom Gramenz), Paul (Isaiah Michalski), Lena (Lena Klenke) und Erik (Jonas Dassler) zeigt uns eindringlich, dass politische Mitbestimmung und öffentliche Meinungsäußerung nicht immer so selbstverständlich waren wie heutzutage. Man leidet mit den Protagonisten und lernt durch den Film hoffentlich die eigene Freiheit mehr zu schätzen.

Sektion: Berlinale Special
Gesehen von: Finn Hackenberg

„Genezis“ von Árpád Bogdán

Im letzten Jahr kam einer der besten Filme des Festivals aus Ungarn – und nahm am Ende auch verdient den Goldenen Bären mit nach Hause. Ildiko Enyedis „Testről és lélekről – On Body and Soul“ zeichnete eine zarte Liebesgeschichte zweier verlorener Seelen vor dem unwirtlichen Umfeld eines Schlachthofs. Im Panorama Special ist dieses Jahr „Genezis“ von Árpád Bogdán zu sehen, ein wenig zarter, dafür umso eindringlicher Film. Er dreht sich um einen rechtsextremen Überfall auf eine Roma-Siedlung. Der neunjährige Ricsi muss mit ansehen wie seine Mutter erschossen wird, ihm gelingt die Flucht. Verknüpft wird Ricsis Geschichte mit der der jugendlichen Virag, die aus einem problematischen Elternhaus stammt, als Bogenschützin im Verein aktiv ist und ein Verhältnis mit Misi hat der, wie sich heraus stellt, in den Überfall verwickelt scheint. Und es geht um die hart wirkende, aber innerlich schwer verletzte Anwältin Hanna, der zugeteilt wird, Misi vor Gericht zu verteidigen. Ein Aufgabe, die sie in schwere Gewissenskonflikte stürzt.
Die Handlungsstränge in „Genezis“ werden hintereinander in drei Kapiteln erzählt, verknüpfen sich aber immer mehr miteinander. Kleinste Details verbinden die Geschichte, wie ein tollwütiger Fuchs und von ihm gebissene Hunde oder ein Zeitungsartikel im Schrank. Erst nach und nach entfaltet sich das Gesamtbild auf eindrucksvolle Weise. Es ist ein düsterer Film, sowohl optisch als auch inhaltlich, aber mit viel Wärme für seine Figuren und Hoffnung am Ende – und vor allem wieder einmal mit großartigen Darstellern. Die völlige Fremdheit der ungarischen Sprache, ihr undurchdringlicher Klang trägt zusätzlich zur Faszination bei. Erstaunlich, dass der Film es nicht in den Wettbewerb geschafft hat. Er hätte die Chance gehabt, weit vorne mit dabei zu sein.

Sektion: Panorama
Gesehen von: Gabi Rudolph

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