So war es beim Flow Festival 2015 in Helsinki

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(c) Samuli Pentti

Letztes Wochenende hat das Flow Festival in Helsinki, Finnland stattgefunden und wir schwelgen noch in den schönsten Erinnerungen. Was vor elf Jahren als kleines Jazz Festival begann, hat dieses Jahr als Musik und Arts Boutique Festival die Rekordzahl von 70.000 Besuchern erreicht und kann somit schon längst nicht mehr als Geheimtipp durchgehen. Das eklektische Line-Up reichte von riesigen Headlinern, wie Florence + The Machine, Belle & Sebastian, Beck und den Pet Shop Boys, über einigen Szene-DJ’s zu lokalen finnischen Newcomern und etablierten Acts. Trotz der vielen Besucher schaffte es das Flow in dem stillgelegten E-Werk Suvilahti eine relaxte Atmosphäre mit urbanem Vibe zu schaffen. 3 Tage lang wurde in der Industriekulisse, die von finnischen Designstudenten für das Wochenende in ein Gesamtkunstwerk verwandelt wurde, ausgiebig gefeiert und getanzt, getrunken und gegessen.

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(c) Samuli Pentti

Tag 1

Ein Festival im Norden ohne Matschewettter? Der August lässt uns nicht im Stich: blauer Himmel und strahlender Sonnenschein sind über das gesamte Wochenende angesagt. Nach einem ausgiebigen Lunch und Touri-Tramtour durch Helsinki geht es am Freitag endlich voller Vorfreude ab zum Festival. So zentral wie das Festival gelegen ist, kann ich easy von der Airbnb-Wohnung im szenigen Kallio, die Helsinki-Version des Berliner Neuköllns, zum Gelände schlendern. Dort stehen schon die ersten hippen Finnen an, die es kaum erwarten können, dass die Toren für das Partywochenende geöffnet werden. Auf der ersten Tour über das Suvilahti-E-Werk entdecke ich das kunterbunte, verwinkelte Festivalgelände: Die größten Hingucker sind die schwebende 360-Grad-”Ballonbühne” und der riesige, alte Gascontainer auf dem ein „Make Sense Not War”-Graffiti prangt. Egal, wo man hingeht oder hinschaut, sämtliche kreativen Dekorationen begeistern: verträumte Lichtinstallationen, goldene Lamettalaternen, Discokugeln am Strommast, ein versteckter Kräutergarten, Tischtennisplatten, Holzhängematten und Schaukeln. Es gibt sogar eine Mikrobrauerei und einen ganzen Skatepark vor Ort.

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(c) Jussi Hellsten

Das Flow ist wohl ziemlich sicher das einzige Musik-Festival auf der Welt, zu dem man auch einzig und allein für das Essen kommen könnte und sich von einer Essensbühne zur nächsten hangeln könnte. Hier gibt es Foodporn vom Feinsten, insgesamt 30 einzigartige Food- und Getränkestände, die ihre Delikatessen anbieten. Um das Nachhaltigkeitskonzept des Festivals zu unterstützen, verwenden alle Anbieter erstklassige Bio-Produkte aus der Region und bieten eine große Auswahl an vegetarischen und auch veganen Gerichten. Meine Gourmet-Auswahl am ersten Tag: Peanut Curry mit Tofu von Lie Mi. Dazu getrunken wird Lapin Kulta, das finnische Bier, das die Einheimischen auch liebevoll als Rentierpisse bezeichnen.

Bei so vielen Überlegungen, was man als nächstes naschen könnte, vergisst man fast, dass es auch Musik hier gibt. Die Acts verteilen sich auf eine riesige Mainstage, 2 große Zeltbühnen, Bright Balloon 360 Stage und diverse andere Locations, wie der Resident Advisor Backyard, in dem DJ’s ihre Skills zum Besten geben oder die Other Stage für musikalische Experimente, wie zum Beispiel die crazy Space Lady). Außerdem stehen heute auf meiner Liste: Run The Jewels, The War On Drugs, Ride und Have You Ever Seen The Jane Fonda Aerobic VHS? Das Trio mit dem skurrilen Namen stammt aus einem kleinen finnischen Ort und beschreibt ihre Musik selbst als “Motown, soul, girl group, 60s, punk rock, garage, 80s, pop, and there’s gospel in a neat little package”. Ein bisschen von allem quasi, aber eine Sache fehlt den Dreien: eine Gitarre. Dem Sound fehlt trotzdem an nichts, mit ihrem Doo Wop Garage Punk begeistern sie schon am frühen Nachmittag auf der Tiivistämö Bühne. Im blauen Zelt geben bald schon The War On Drugs die atmosphärischen Gitarrensounds ihres letzten Albums „Lost In A Dream“ zum Besten. Mit ihren rhythmischen Mantras passiert genau das, man verliert sich zu der simplen aber passenden Lichtshow in seinen Träumen. Fun Fact: Frontmann Adam Granduciel wurde später zusammen mit Belle & Sebastian schnapstrinkend im Hotel gesichtet. Nach The War On Drugs übernehmen Ride die Bühne im blauen Zelt und knüpfen an die verträumte Atmosphäre an. Eine ganze Spur härter geht es beim Hip Hop Duo Run The Jewels im schwarzen Zelt zu. El-P und Killer Mike verkünden: „We’re gonna fuck this fucking shit up.“ und warnen die ersten Reihen. Wer noch sauber ist und so bleiben möchte, sollte schnellstens verschwinden, “Close Your Eyes And Count To Fuck”. Nach der letzten Show des Tages geht es zur „Aftershow Party“ in einer fantastisch abgedrehten Location: Sompasauna. Eine selbstgebaute Sauna abgelegen am Hafengelände, die eine kleine glückliche alternative Miniwelt repräsentiert, voll mit bis zum Sonnenaufgang tanzenden, nackigen Finnen.

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(c) Jussi Hellsten

Der 2. Tag startet daher erstmal langsam mit einem Spaziergang durch die Innenstadt und dem hoch gelobten Design District. Durch den Festivalbeginn am späten Nachmittag hat man genug Zeit, Helsinki ein bisschen kennenzulernen und Locals zu treffen. Kaum auf dem Festivalgelände, wiederbelebt durch Cold Brew Coffee von Paulig, geht es zu den fantastischen Foxygen, die zusammen mit drei Tänzerinnen in Glitzerkleidchen und Sneakers auf der Bühne tanzen.

flowfoodDanach folgt die wohl spektakulärste Stärkung, die ich jemals auf einem Festival erlebt habe. Richard McCormick, das finnische Äquivalent zu Jamie Oliver, kreiert folgendes Essenserlebnis: Geräucherte arktische Regenbogenforelle, mit Frühkartoffeln, Maille Senf, Frühlingszwiebeln und Pfifferlingen (!), Grünkohl, Dill & Gurken Pesto, und nein es hört noch nicht auf, mit saisonalen Essiggurken in Birnenvinaigrette mit Ingwer und Chili Rote Beete, Apfel-Meerettich-Salat und Pastinakenchips. Noch Fragen? 

Musikalisch geht es danach weiter mit Belle & Sebastian, die ein wenig unspannend auf der Mainstage ihre Show abziehen. Einmal kurz bei Roisin Murphy geschaut, die innerhalb kürzester Zeit von einem extravaganten Kostüm zum nächsten wechselt. Bei Seinabo Sey erlebe ich während eines endlos andauernden Sonnenuntergangs, der das Gelände in das schönste Licht taucht, zum ersten Mal die einzigartige Ballonstage. Der verdammt gute 360-Grad-Sound bringt die tiefe, authentische Soul-Stimme der sympathischen Soulpop-Sängerin aus Schweden perfekt rüber. Danach stolpere ich spontan zu Evian Christ ins schwarze Zelt und werde umgehauen von der Energie, dem durchdringenden Bass und der krassen, monochromatischen Lichtshow.
Kein Wunder, dass alles was daraufhin folgt, eher langweilt. Die Pet Shop Boys versuchen auf der Mainstage bei einer viel zu leisen Show die dadurch etwas frustrierten Zuschauer mit skurrilen, alptraumerzeugenden Kostümen, wie Minotaurus-Masken oder sonstigen PopArt-Experimenten zu bespaßen. Nur die Hits, wie „Go West“ und „Always On My Mind“ sitzen und werden, gewusst wie, gleich ein bisschen lauter gespielt.
Heutige Aftershow Location: None aka Bett.

Tag 3

Mit Headlinern wie Beck und Florence + The Machine hatte der finale Festival Tag noch das Beste in petto, so dass sich während eines weiteren sonnigen Tag in der Stadt die Vorfreude auf die Flow Shows steigert.
Kein anderer als Tyler, The Creator heizt mit seinem provokanten Rap das blaue Zelt ein. Gerade erst musste er seine australische Herbsttour canceln, da er aufgrund seiner extrem kontroversen Texte dort nicht erwünscht war. Hier scheint es niemanden zu stören, der Andrang ist groß. Tyler lässt das Publikum rufen, was ihm gerade in den Kopf kommt. Cherry Pie. Hot Dog. Whoa. Fuck this. Fuck that. Klar, warum nicht.
Beck regiert ein Stückchen weiter voll motiviert die Mainstage und haut gleich zu Beginn „Devils Haircut“ und „Loser raus“, aber auch seine neue Single „Dreams“ kommt gut an. Ein Outfitwechsel von schwarzem zu weißem Jacket fand statt und eine Banane wurde von ihm gegessen.

A propos Essen. Heute steht bei mir nach einem südamerikanischen Pilz-Ceviche später noch ein Veggie-Burrito und veganes Kokosnusseis mit raw minty Matcha-Keks und Himbeeren auf dem Menü. Dazu: Weißwein aus Australien. Weiter kann es gehen.
Florence + The Machine lassen sich derzeit als Headliner bei jedem großen Festival blicken und sind auch beim Flow ein absolutes Highlight für die euphorischen Zuschauer, die diese Göttin, natürlich barfuß und im weißen Anzug, auf der Mainstage bejubeln. Von mir wird der Auftritt allerdings nur kurz von Weitem betrachtet, denn der Sog zum blauen Zelt zu Alt-J ist zu stark. Nach ihrer langen „This Is All Yours“-Tour sitzt jeder Handgriff und sie liefern eine makellose Show, die wie jedes Mal mit „Breezeblocks“ und einem „Please don’t go, I love you so“ singenden Publikum endet. Das gilt dieses Mal wohl nicht nur Alt-J, sondern auch dem Flow, denn hiermit ist das Festival so gut wie vorbei. Ein fantastisches Wochenende, das natürlich noch mit einer gebührenden Aftershow Party enden muss. Diese findet in Äänivalli statt, ein ehemaliges Warenhaus, mit den DJ’s Dekmantel Soundsystem (NL), RØDHÅD (Berlin) und Solar (US). Auch der näherrückende Montag scheint die Finnen nicht zu stoppen. Don’t stop the flow. Ever. We’ll be back.

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(c) Jussi Hellsten

War dabei: Christina Heckmann