Interview mit Richard Reed Parry über „Music For Heart And Breath“

„Warst Du schon einmal in einem Tourbus?“ fragt mich Richard Reed Parry, als er vor mir die Stufen hinauf steigt. Ich verneine. „Well, then welcome to the Arcade Fire tourbus!“ Verrückt. Es stimmt tatsächlich, der geräumige Nightliner mit den ordentlich in brombeerrot bezogenen Betten gehört zur Flotte der kanadischen Indieerfolgsband Arcade Fire, von der Richard Reed Parry seit deren Gründung festes, schwer weg zu denkendes Mitglied ist. Schwer zu sagen, welches Instrument er dabei eigentlich genau spielt. Gib ihm eins in die Hand, er wird damit umgehen können. Und irgendwie wirkt er fast am glücklichsten, wenn man ihm eine Gitarre in die eine, eine Trommel in die andere gibt und ihm gleichzeitig ein Akkordeon um den Hals hängt. Selten habe ich jemanden gesehen, der auf der Bühne eine größere Begeisterung für das Musik machen ausstrahlt. Immer mit vollem emotionalen und vor allem auch einem ungewöhnlichen körperlichen Einsatz. Da wundert es einen fast schon nicht mehr, dass ausgerechnet dieser Mann, der sowohl eine klassische Musik- als auch eine Tanzausbildung hat, eine völlig neuartige Form des Musikmachens entwickelt hat, bei der Körper und Musikalität in noch direkterer Verbindung als sonst zueinander stehen. Auf seinem Solodebütalbum „Music For Heart And Breath“ findet man keinen Indierock, sondern eine Reihe orchestraler Kompositionen, bei denen die ausführenden Musiker sich im Spiel an ihrem eigenen Herz- und Atemrhythmus orientieren. Klingt vielleicht verkopft, ist aber das genaue Gegenteil davon – ein neuartiges, musikalisch wunderschönes, körperlich unmittelbares Hörerlebnis.
Einen Tag nach dem Konzert mit Arcade Fire hat Richard Reed Parry einen Teil seiner Stücke aus „Music For Heart And Breath“ live in Berlin präsentiert. Spätestens danach war mir klar: mit dem Mann muss ich mich darüber unterhalten. Keine 24 Stunden später, nur zwei Stunden vor dem Auftritt von Arcade Fire beim lauten, staubigen und hektischen Hurricane Festival, sitzen wir für eine halbe Stunde erstaunlich entspannt zusammen im gemütlichen Vakuum des Tourbusses. Und reden über Musik für Herz, Atem, Körper und Seele.

Wie war es gestern für Dich?

Großartig! Es hat viel Spaß gemacht. Es ist immer ein bisschen verrückt. Außer mir und einem der Musiker haben alle die Stücke erst an diesem Tag gelernt. Was eigentlich komplett wahnsinnig ist.

Das war tatsächlich das Erste, was ich Dich fragen wollte. Ihr hattet bestimmt nicht viel Zeit zu proben.

Nein, hatten wir nicht (lacht). Aber es ist meistens so. Ein paar der Stücke habe ich beim Barbican in London gespielt, bevor das Album raus kam. Und es war genau das Gleiche, man kam um zwei Uhr an, hat zweieinhalb Stunden gespielt und ist um acht aufgetreten. Das ist… puh. Solang man nicht mit einer Band oder einem festen Ensemble spielt, was meistens zu teuer ist oder logistisch keinen Sinn macht, bekommt man großartige, wunderbare, vielseitige klassische Musiker und wird einfach hinein geworfen. Zum Glück ist André de Ridder, der Leiter des Stargaze Ensemble, mit dem ich in Berlin gespielt habe, einfach großartig. Wenn man so jemanden hat hilft es, dass alles viel schneller zusammen kommt. Allein die Musik so schnell zu lernen und sie dann auch noch in dieser ungewohnten, körperlich sehr herausfordernden Art zu spielen, ist ganz schön viel. Das ist immer ganz schön nervenaufreibend für mich, was eigentlich nicht der Sinn dieser Musik ist (lacht).

Also bekommen die Musiker vorab nur die Noten und können sich dadurch vorbereiten?

Ja, sie können sich ein wenig vorbereiten. Sie können die Noten lernen. Manche tun es, manche nicht (lacht).

Ich habe während des Konzertes versucht, einen Blick auf die Notenblätter zu erhaschen. Ich war neugierig, wie Du Deine Musik niederschreibst, da sie ja nicht das klassische Rhythmusformat hat.

Sie hat Takte aber kein angegebenes Tempo. Grundsätzlich sieht es aus wie ganz normale Partituren, außer dass es keine Zeiteinteilungen gibt und es gibt hier und da kleine Anweisungen und verschiedene Symbole. Ich nehme also normale Noten und behandle sie zum Teil anders. Jeder Takt repräsentiert einen Atemzyklus, eine Inhalation und eine Exhalation. Meistens repräsentiert jede Viertelnote eine In- und eine Exhalation. Und ein Paar Achtelnoten mit einem kleinen Pfeil versehen steht für eine Reihe Herzschläge. Babum, babum, babum. Es sind also grundsätzlich normal nieder geschriebene Noten, aber je nach dem Stück und dem jeweiligen Teil des Stücks funktionieren sie anders. Es ist kein perfektes System aber… ich arbeite dran (lacht).

Bevor ich Deine Musik zum ersten Mal gehört habe, war ich neugierig, wie sich das wohl anhören würde. Ich hatte die Vorstellung, dass es doch ein ziemliches Durcheinander sein müsste, wenn Musiker nach ihrem eigenen Herzschlag spielen. Aber das genaue Gegenteil ist der Fall, es ist sehr harmonisch.

Richtig. Es funktioniert auch immer unterschiedlich. Manchmal gibt es Passagen, da spielt jeder in seiner eigenen Geschwindigkeit. Aber manchmal spielt der Cellist nach seinem Atemrhythmus und alle folgen dem Atem des Cellisten. Er führt das Ensemble an. Dadurch bleibt es zusammen. Wenn ich es mehr abgehackt und durcheinander möchte, schreibe ich eine kurze Passage, in der alle zusammen anfangen und am Ende auseinander driften. Dann, manchmal, folgt eine Person ihrem Atem und die anderen alle ihrem Herzschlag.

Meine Tochter spielt Geige im Schulorchester. Sie meinte, das wäre bestimmt schwierig zu spielen, weil man im Orchester als erstes lernt, auf die anderen und nicht auf sich selber zu hören.

Es ist sozusagen halb und halb. Ich versuche die Qualität des harmonischen Miteinanders herauszubringen und gleichzeitig mehr Raum für das Individuelle, Unkontrollierte zu lassen. Den Körper führen zu lassen. Wie funktionieren die Dinge, wenn ich den Körper zum Dirigenten mache? Es liegt außerhalb der eigenen Kontrolle und ist deshalb etwas unvorhersehbar. Aber dann gibt es ja die Musik, die ein festes Gerüst ist, dank der es einen harmonischen Ablauf gibt. Die Stücke sollen ja auf eine bestimmte Art und Weise klingen. Es ist jedes Mal anders, aber nicht 100 Prozent anders. Vielleicht 30 Prozent anders oder so.

Die Musiker haben also Stethoskope in den Ohren…

In einem Ohr. Sonst ist es unmöglich zu spielen.

Ja! Ich erinnere mich, wie ich mir als Kind Kopfhörer aufgesetzt, laut Musik gehört und mich selber aufgenommen habe, wie ich dazu singe.

Richtig! Das klingt furchtbar (lacht).

Trotzdem, selbst mit dem Herzschlag nur in einem Ohr, stelle ich es mir sehr schwer vor, sich zu konzentrieren.

Es ist wirklich schwierig. Auf einem Ohr hast du nur den Herzschlag. Aber nicht jeder spielt immer nur das Herz. Beim Sextett zum Beispiel ist es so, dass drei Klavier spielen und drei die Streicher und die Streicher spielen nach dem Atem, das Klavier spielt nach dem Herzen. Also müssen die Streicher sich nicht um das Stethoskop kümmern. Für sie ist es leichter (lacht). Aber ja, du hast etwas in einem Ohr, musst die Noten lesen, auf dich selber und auf die um dich herum hören. Du musst deine Aufmerksamkeit sehr aufteilen. Das ist sehr, sehr herausfordernd.

Was ich an Deiner Musik wirklich besonders finde ist, dass sie einen direkten, unmittelbaren Effekt auf den Körper zu haben scheint. Mehr als Musik es sowieso schon hat. Verstehst Du was ich meine?

Ja, großartig! Genau so soll es sein. Ich hatte gehofft, dass das passieren würde und freue mich immer sehr, das zu hören. Ich habe eine Freundin, die ist Osteopathin. Sie hatte schon Live Aufnahmen der Stücke Jahre bevor das Album heraus gekommen ist. Sie schwört drauf! Sie benutzt sie immer während ihrer Sitzungen. Sie sagt, die Patienten legen sich auf den Behandlungstisch und öffnen sich sofort energetisch. Meistens, sagt sie, bekommt sie ihre Patienten energetisch genau dort hin, wo sie sie braucht, um sie zu behandeln. Das ist doch fantastisch.

Wie fühlen sich die Musiker nach einem Konzert?

Sie lassen sich ziemlich darauf ein, weil man von ihnen etwas verlangt, das sie noch nie zuvor gemacht haben. Sie werden herausgefordert, aber auf eine sehr unaggressive Art und Weise. Auf sehr sanfte Art wird von ihnen etwas völlig Neues verlangt. Man muss einen Teil der Intuition los lassen, die man vor allem als klassisch ausgebildeter Musiker antrainiert bekommt. Du musst deinem Atem folgen – uh, jetzt ist der Atem kurz, also spielst du ihn kurz. Jetzt ist er laaaang…. Sie müssen also einen Teil ihrer musikalischen Erziehung ablegen. Das ist schwer für sie, aber auf einer gewissen Ebene auch sehr befreiend. Es weckt etwas auf in der musikalischen Beziehung zwischen Körper und Geist. Danach sagen viele: Vielen Dank, das war etwas Einzigartiges, das ich so noch nie gemacht habe. Es lässt sie anders denken und eröffnet ihnen vage neue Möglichkeiten, die so vorher nicht da waren.

Hast Du jemals erlebt, dass Musiker sich dem verschlossen haben und Du so mit ihnen nicht arbeiten konntest?

Ein paar. Als ich zum ersten Mal ein Orchesterstück gemacht habe, sind ein paar der Musiker nicht rein gekommen. Aber das ist ok. Ich dachte nur: ok, wenn du es nur vortäuschst und nicht wirklich tust, fein, aber dann mach es wenigstens bitte nicht deinem Nachbarn nach, ich bin mir sicher, dein Herzschlag ist nicht genau so wie seiner (lacht).

Ich habe mich auch gefragt, was wohl innerhalb einer Gruppe passieren würde, wenn man es auf längere Zeit mit den gleichen Leuten macht.

Absolut! Das habe ich mich auch schon gefragt. Ich hoffe, ich werde das im Herbst herausfinden, dann werde ich nämlich ein paar Shows mit der gleichen Gruppe spielen, oder zumindest mit einer begrenzt wechselnden Zahl von Leuten. Ich freue mich sehr darauf, länger mit ein und derselben Gruppe zu arbeiten. Man hat dann nicht mehr den Stress, das Ding jeden Tag aufs Neue zu lernen und zu hoffen, dass es nicht auseinander fällt. Ich bin gespannt was passiert, wenn man sich mehr auf die Stücke verlassen kann, ob dann etwas Tieferes passiert. Ich glaube, das kann ganz besonders sein.

Jetzt musst Du mir zum Schluss aber noch erzählen, wie Du überhaupt auf die Idee gekommen ist.

Ich hatte die Idee vor 12, 13 Jahren. Zu der Zeit habe ich mich sehr für John Cage interessiert, aber mehr für seine Ideen als für das meiste seiner Musik. Bei den meisten seiner Stücke dachte ich: ich mag die Idee dahinter, aber ich würde es mir nicht noch einmal anhören. Einige der Stücke liebe ich, aber meistens ist da diese wunderschöne Idee und diese große, künstlerische Geste, aber in Bezug auf die reine Musikalität muss ich es nicht haben. Mit 20 habe ich Steve Reich entdeckt. Was er macht, fühlte sich für mich auf eine Art so sehr mit dem Körper verbunden an, dieses ständige Pulsieren, ohne dabei aggressiv zu sein. Das waren wohl meine zwei größten Einflüsse. Ich habe an der Universität Elektroakustische Musik studiert und hatte immer das Gefühl, dass mir da eine entscheidende Verbindung zu einer Musikalität fehlt, die mir persönlich sehr wichtig ist. Ich fand, ich kann darüber nachdenken, aber ich fühle es nicht. Ich denke, die beste Musik ist die, die dein Körper und dein Gehirn gleichermaßen verstehen. Also habe ich mir diese ganze Musik angehört. aber das war mir alles zu kopflastig, zu wenig Körper. Ich dachte, das sind alles wunderbare Ideen, wie John Cage versucht, Schlüssel zu anderen musikalischen Türen zu finden, sie zu öffnen, Elemente von Chaos und Zufall zuzulassen. Diese Geste, diese Idee bedeutete mir viel und ich dachte: gut, was gibt es sonst für Möglichkeiten, der Musik etwas hinzuzufügen, das mir ein paar Entscheidungen aus der Hand nimmt? Ich dachte über den Körper nach, weil ich zur selben Zeit Tanz studiert habe. Und plötzlich kam mir diese Idee in den Kopf und ich hatte sofort eine ästhetische Vision dazu. Wenn man zufälligen Rhythmus mit ganz klar vorgegebenen Noten verbindet, wenn du eine schöne Melodie nimmst und sie gegen einen eher chaotischen Rhythmus setzt – das könnte eine sehr fragile, vielleicht sogar wunderschöne Qualität haben. Ich konnte plötzlich den vagen Rahmen für eine neue, musikalische Ästhetik sehen, die es so noch nicht gab. Es hat dann noch Jahre gedauert, bis ich es wirklich umgesetzt habe. Ich dachte immer wieder: oh nein, ich muss es noch tun, bitte, mach, dass niemand meine Idee stiehlt bevor ich es mache! (lacht) Ich kann es immer noch nicht so ganz glauben, dass niemand es vor mir getan hat und dass das Album endlich fertig ist. Also, danke! (lacht)

„Music For Heart And Breath“ von Richard Reed Parry ist am 20.06.2014 auf Deutsche Grammophon erschienen.

Interview: Gabi Rudolph
Fotos (c) Guillaume Simoneau