Gelesen: Kris van Steenberge „Verlangen“

9783608980349Verlangen ist der Motor der die Menschheit antreibt. Alles beginnt mit einem Verlangen, nach etwas, nach jemandem. Und oft ist es auch der Anfang vom Ende, der Untergang, dem man entgegen treibt. Die Figuren in Kris van Steenberges Debütroman „Verlangen“ sind alle in genau diesen verstrickt, ihren eigenen Verlangen wie in die der anderen. Nach Liebe, nach Anerkennung, nach einem besseren Leben. Am Anfang von allem steht Elisabeth, die Tochter des Schmieds. Gleich zwei Männer gibt es, die um sie werben. Der geheimnisvolle Herr Funke, ein zugezogener Fremder in dem flämischen Dorf Woestern, in dem die Geschichte Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt. Und dann ist da noch Hendrik aus dem berüchtigten Centime Viertel, der offener nach Elisabeth verlangt, mit dem die Mutter den Umgang aber aufgrund seiner Herkunft verbietet. Das Werben von Herrn Funke ist zurückhaltender, er schenkt ihr Bücher und malt Bilder von ihr. So macht am Ende ein Dritter das Rennen, der angehende Arzt Guillaume Duponselle. Die junge Braut wird schnell schwanger, es werden Zwillinge, zwei Söhne, der eine schön und gesund, der andere im Gesicht so entstellt, dass man keine hohe Erwartung an sein Leben hat. Der Vater lehnt das Geschöpf ab, man gibt ihm keinen Namen, aber zum Erstaunen aller wächst „Namenlos“ genauso heran wie sein Bruder. Was kaum einer ahnt ist, dass in dem Jungen, der aufgrund seiner Entstellung noch nicht einmal sprechen kann, hinter der Fratze, für die das ganze Dorf nur angewiderte Blicke übrig hat, ein wacher, heller Geist steckt, aufnahmefähiger als der Bruder, auf dem die Hoffnungen des Vaters liegen. Im Gegensatz zum Vater schenkt die Mutter ihre Zuneigung beiden Söhnen, aber dann stirbt sie, der erste Weltkrieg steht vor der Tür und alle Mitglieder der Familie Duponselle blicken in die tiefsten Abgründe, die das Leben für sie bereit hält.
Der belgische Autor Kris van Steenberge beschreibt unglaublich kraftvoll die Geschichte eines flämischen Dorfes und seiner Bewohner zu Beginn und während des ersten Weltkrieges, ihm dienten dabei die Erinnerungen seines Großvaters als Ausgangspunkt. Seine Erzählung schreitet vor allem im ersten Drittel mit erstaunlichem Tempo voran, dass man sich fast wundert, wohin das noch alles führen soll. Umso überraschender sind die Perspektivwechsel in der Erwählweise, mit denen man zu Anfang gar nicht rechnet. Auf diese Weise beleuchtet er jede seiner Figuren von mehreren Seiten, was sie für den Leser umso greifbarer macht. Es ist kein besonders erbauliches Leben, von dem van Steenberge berichtet, die verheerenden Folgen des Krieges beleuchtet er ebenso schonungslos wie das Leid eines jeden einzelnen. Jeder wird von seinem eigenen Verlangen getrieben und mit dem der anderen konfrontiert, manchmal hoffnungsvoll und leidenschaftlich, aber auch destruktiv, schmerzlich und oftmals tödlich. Es sind die großen Themen, die auf den Tisch kommen, Leben, Liebe, Tod, Missbrauch, körperliches und geistiges Leid. Dabei versucht er stets, die menschliche Seite eines jeden auszuloten, wenn am Ende auch manchmal nur der Teufel übrig bleibt. Umso rührender ist die Hoffnung, die am Ende aufzukeimen scheint, wenn man als Leser auch weiß, dass der nächste Krieg nicht weit entfernt ist.
Darüber hinaus ist „Verlangen“ schlichtweg packend erzählt, schließlich muss auch ein Mord aufgeklärt werden und die Suche nach dem Täter erweist sich, dank einer Reihe potentieller Verdächtiger, als bis zum Schluss wendungsreicher, spannender Plot. „Verlangen“ ist ein unglaublich starkes Debüt, sowohl sprachlich als auch inhaltlich eine faszinierende, runde Geschichte.

Info: Kris van Steenberge, geboren 1963 in Lier/Belgien, ist Dramatiker, Regisseur, Lehrer und Autor. Sein erster Roman „Verlangen“ wurde 2014 mehrfach als bestes flämisches Debüt ausgezeichnet. Er ist im Klett-Cotta Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden. 

Gelesen von: Gabi Rudolph

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