Gelesen: Ian McEwan „Nussschale“

pressebild_nussschalediogenes-verlag_72dpiIan McEwans literarisches Schaffen ist ein Universum für sich. Wer einmal einen seiner Romane in die Hand genommen hat, der wird es in der Regel nicht bei einem belassen. Und man wird sich immer daran erinnern, welcher Roman der ursprüngliche Schlüssel zur McEwan-Welt war. Für mich war es „Abbitte“, einer seiner größten Erfolge. Was für eine Geschichte! So faszinierend, so groß, so unvorhersehbar. Aber jeder von Ian McEwans Romanen weiß auf seine Weise zu verblüffen. Seine Erzählungen sind, auch wenn sie sich oft aus einem verwandten Themenkosmos bedienen, immer wieder überraschend. Es ist nicht zwingend ein Universum zum Wohlfühlen. „Am Strand“, die Erzählung einer missglückten Hochzeitsnacht und deren Folgen, dürfte das Deprimierendste sein, das ich je gelesen habe.
Was fast alle seine Figuren vereint ist, dass sie sich in irgend einer Weise Schuld aufgeladen haben. So auch in seinem neuesten Roman „Nussschale“, in dem es um Betrug in der Ehe, eine ungewollte Schwangerschaft, sexuelle Begierde und die Planung eines Mordes geht. Nicht unbedingt der originellste und raffinierteste Plot, den Ian McEwan sich dieses Mal ausgesucht hat, aber gewiss der aus der überraschendsten Perspektive, die er als Erzähler je gewählt hat. Nämlich die des Unschuldigsten von allen in diesem verdorbenen, doppelbödigen Ränkespiel: das ungeborene Kind im Leib einer Mutter, die sich aus Leidenschaft auf Abwege begibt.
Das ist als Idee schon brillant, in der Umsetzung ist es ein kleiner Geniestreich, denn der ungeborene Erzähler ist der, der am wenigsten in die Handlung eingreifen kann, sie aber auf seine ganz eigene Weise wahr nimmt und entsprechend kommentiert. Dafür legt Ian McEwan, der sonst eine eher klare, reduzierte Sprache benutzt, ihm eine exaltierte Ausdrucksweise in den Mund, mit der er nicht nur die Geschehnisse um sich herum kommentiert, sondern auch das, was er durch das ausgiebige Hören von Podcasts seiner ihn tragenden Mutter von der Welt da draußen mit bekommt. Er gibt sich als Weinkenner, der einen guten Tropfen durchaus zu schätzen weint (leider meist nur zwei Gläser, da die Mutter zumindest zu Anfang noch Rücksicht auf ihn nimmt) und hat eine ganz eigene Sicht auf das trotz spätem Stadium der Schwangerschaft ausgiebige Sexualverhalten seiner Mutter.
Die unterhält nämlich eine leidenschaftliche Affäre mit dem tumben Bauunternehmer Claude, der sich im Lauf der Geschichte als Bruder ihres Ehemannes John entpuppt. Jenen hat sie aus dem Haus gejagt, sie kann ihn nicht mehr ertragen, die früher so sehr herbeigesehnte Schwangerschaft ist jetzt eher im Weg. Das Haus, aus dem sie ihn gejagt hat ist aber seins, trotz seines schlechten Zustandes hat es einen Marktwert von mehreren Millionen. Als John plötzlich mit seiner jugendlichen Geliebten Elodie vor der Tür steht und sein Heim wieder für sich beansprucht, steht der Plan: John muss verschwinden, das Haus verkauft werden, das Baby wird man schon irgendwie los werden.
Das ist keine Musik in den Ohren des ungeborenen Lauschers, der sich aus all dem auf eine amüsant altkluge Weise einen Reim zu machen versucht, der auch immer wieder Versuche unternimmt, mit seinen begrenzten Mitteln in die Handlung einzugreifen, am Ende auch erfolgreich, indem er die Bombe, sprich die Fruchtblase platzen lässt, aber da ist es eigentlich, zumindest für seine Mutter, schon zu spät.
Man könnte sich natürlich die gesamte Erzählung über damit aufhalten, ob diese Erzählperspektive tatsächlich aufgeht. Man könnte kleine logische Fehler suchen oder sich einfach nicht damit anfreunden können, dass ein Ungeborenes mit blumiger Ausdrucksweise altklug daher redet und auch mal Hamlet zitiert. Man kann sich aber auch einfach erfreuen an diesem erstaunlich leichten und gleichzeitig äußerst spannenden Roman, der sich anfühlt als hätte Ian McEwan sich selbst mit einem Augenzwinkern einen Abstand von der Härte des Lebens gegönnt, die er sonst so viel drastischer analysiert. Und selbst wenn man es täte: viel Unlogisches wird man nicht finden. Dazu ist Ian McEwan ein viel zu meisterhafter Erzähler, der sich immer wieder darauf besinnt, was sein Erzähler nun genau mitbekommen kann und was nicht. Ein Schelmenroman der ganz besonderen Art ist das geworden, den man ganz leicht und voller Amüsement in einem Rutsch durchgelesen hat.

Info: Ian McEwan ist einer der erfolgreichsten zeitgenössischen britischen Autoren. „Nussschale“ ist seine 18. Veröffentlichung aus einer Reihe von Romanen und Geschichtensammlungen. Er ist im Diogenes Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden.

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