Gelesen: Aravind Adiga „Golden Boy“

9783406698033_coverAls ein Freund vor ein paar Jahren nach Indien zum Arbeiten ging, habe ich ihm Aravind Adigas Debütroman „Der weiße Tiger“ als Abschiedsgeschenk mitgegeben. Tatsächlich erzählte er mir später, dass „Der weiße Tiger“ ihm des öfteren geholfen habe, seine neue Heimat besser zu verstehen. Aravind Adiga ist in Indien geboren und aufgewachsen, dort spielen auch seine Erzählungen. Aber nicht auf diese verklärt romantische Weise, wie man es von Romanen aus fremden Welten gerne erwartet, mit elegischen Landschaftsbeschreibungen und einer Portion folkloristischer Mystik. Auf so etwas verschwendet Adiga keine Zeit. Er erzählt die Dinge so wie sie sind, und sie passieren nunmal zufällig dort, wo er sich am besten auskennt. Orte und Umgebungen werden bei ihm wenn dann eher beiläufig beschrieben und es ist wirklich faszinierend, wie genau das das Bild seiner Heimat, das er zeichnet, nur umso authentischer macht.
Sein neuer Roman „Golden Boy“ erzählt die Geschichte zweier Brüder und ihres Kampfes um den Aufstieg in der Welt des Cricket. Ich habe keine große Affinität zu Sport, liebe aber Sportgeschichten. Die jeweilige Sportart ist da eher ein MacGuffin, es sind letztendlich immer die gleichen Werte um die es geht: Aufstieg des Außenseiters, Entkommen aus schwierigen sozialen Verhältnissen, Überwinden der eigenen Grenzen. Es macht immer wieder Spaß zu verfolgen, wie die Welt des Sports Menschen ungeahnte Möglichkeiten eröffnet und es ist interessant, welche Sportarten in welchen Kulturen einen besonderen Stellenwert einnehmen. Aravind Adiga bezeichnet in „Golden Boy“ Indien als „ein Land, das eigentlich nur zwei Religionen kennt – Kino und Cricket“. Und so geht der Vater der beiden Brüder, Radha und Manju, regelmäßig in den Tempel, um für den Erfolg seiner Söhne zu beten und dem Gott des Cricket ein finanzielles Opfer darzubringen.
Es ist auch eine klassische Grundkonstellation, von der „Golden Boy“ ausgeht. Der Hoffnungsträger ist Radha, der Ältere, für ihn hat der Vater die große Karriere beim Cricket geplant und vorausgesehen. Aber sein jüngerer Brüder Manju erweist sich als der Talentiertere, letztendlich ist er es, der das begehrte sechswöchige Stipendium in England erhält. Ein „Verrat“, den Vater und Bruder ihm nie ganz verzeihen. Aber es ist nicht die Geschichte von Manjus großem Aufstieg, die Adiga erzählen will, denn die Entscheidung für die Karriere im Cricket bedeutet für Manju zwar unbestreitbare soziale Vorteile, aber auch persönlichen Verzicht. Eigentlich träumt er von einem Studium der Naturwissenschaften, was ihn aber am meisten quält ist der Kampf mit der eigenen sexuellen Identität. Einer seiner größten Konkurrenten, Javed, wird irgendwann zur personifizierten Verführung. Javed ist einen Schritt weiter als Manju, er steht zu seiner Homosexualität, zumindest soweit, wie es in einem Land wie Indien, in dem homosexuelle Handlungen, dem Strafgesetzbuch nach, nach wie vor strafbar sind, überhaupt möglich ist. Irgendwann stellt er Manju vor die Wahl, entweder eine Karriere als Cricketspieler, die eventuell die Aufnahme in die Nationalmannschaft bedeutet oder ein zurückgezogenes, aber erfülltes Leben an seiner Seite.
Manju hat es nicht leicht. Er ist der „Golden Boy“ und es wird mächtig von allen Seiten an ihm gezogen. Sein Vater, sein Bruder und Javed, aber auch Talentscouts und Förderer, jeder möchte auf seine Weise mitbestimmen, was mit ihm geschehen soll und jeder fühlt sich auf seine Art dazu berechtigt. Es geht viel um persönlichen Verzicht in Aravind Adigas neuen Roman, um die Suche nach persönlicher Erfüllung aber auch um die Unmöglichkeit, diese zu erreichen. Oft sind es nur die eigenen Grenzen, die es gilt zu überwinden, aber diese mögen mitunter auch die schwersten sein.
„Golden Boy“ zeichnet ein lebendiges Bild der Gesellschaft des heutigen Indiens, Aravind Adiga gibt allen Figuren viel Raum sich zu entwickeln, das alles mit einer angenehm unaufgeregten erzählerischen Beiläufigkeit. Insgesamt nicht ganz so sensationell wie sein furioser „weißer Tiger“, aber dennoch ein spannender Roman über die gesellschaftliche Stellung des Sports und über die Bemühungen eines jeden, seinen Platz im Leben zu finden.

Info: Aravind Adiga wurde 1974 in Chennai, Indien, geboren. Für seinen Roman „Der weiße Tiger“ gewann er 2008 den Booker Prize. Sein neuer Roman „Golden Boy“ ist im C.H. Beck Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden. 

Gelesen von: Gabi Rudolph

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